Geflohen, eingeschrieben, eingelebt

Der Somalier Abdimalik

Der Somalier Abdimalik ist einer der ersten Studenten der Kiron-Flüchtlings-Universität. In seinem WG-Zimmer in Mitte arbeitet er sich begeistert durch die Online-Kurse. Das Projekt könnte das ganze Bildungssystem revolutionieren
Text: Sascha Lübbe

Die Geschichte beginnt in Ägypten. Abdimalik, Flüchtling aus Somalia, fühlt sich in Kairo nicht mehr sicher: Gangs überfallen Migranten wie ihn, die Polizei tut nichts dagegen. Er wird mehrfach geschlagen und inhaftiert. Man droht, ihn in sein Heimatland abzuschieben – wo er aus politischen Gründen verfolgt wird. Also beschließt er, nach Deutschland zu fliehen. Noch auf der Flucht macht er sich im Internet über seine Wunschheimat schlau – und stößt auf die „Kiron University“ und „Flüchtlinge Willkommen“, zwei Initiativen aus Berlin.

Heute, ein halbes Jahr später, sitzt der 27-Jährige in seinem Zimmer und blickt auf den Gendarmenmarkt. Vor ihm ein aufgeklappter Laptop. Abdimalik klickt sich durch den Wissenstest zum Thema Holocaust – einer seiner Studienkurse. „Ich habe sehr großes Glück“, sagt er.

Abdimalik büffelt im WG-Zimmer. Foto: Sascha Lübbe
Abdimalik büffelt im WG-Zimmer. Foto: Sascha Lübbe

Abdimalik ist einer der 50 Berliner Studenten der neugegründeten Kiron University, der ersten Online-Uni für Flüchtlinge. Ein Projekt, das eine Lücke schließt. Etwa 50.000 der Flüchtlinge, die dieses Jahr in Deutschland erwartetet werden,  möchten studieren, schätzt die Friedrich-Ebert-Stiftung. Für viele wird es vorerst ein Wunsch bleiben. In Berlin ist nicht einmal geklärt, ob Asylbewerber überhaupt studieren dürfen. In allen anderen Bundesländern ist es zwar theoretisch möglich, dafür aber mit Hürden verbunden. So müssen Bewerber meist fortgeschrittene Sprachkenntnisse vorweisen, um sich einschreiben zu können. Zudem fehlen ihnen oft die notwendigen Dokumente, etwa die Abiturzeugnisse.

Die Idee der Kiron-Gründer Markus Kreßler und Vincent Zimmer klingt da erstaunlich einfach: Asylbewerber können bei ihnen direkt mit dem Studium beginnen, ohne Sprachtest,  ohne Dokumente. Die ersten zwei Jahre absolvieren sie englischsprachige Online-Kurse, die von Unis wie Harvard, Stanford oder Yale im Netz angeboten werden. Im dritten Jahr geht das Studium vor Ort los – an einer der Universitäten, die als Partner am Kiron-Projekt teilnehmen. So bleibt genug Zeit, die Sprache zu lernen und die Dokumente nachzureichen. Die Ausbildung beginnt für die Flüchtlinge mit einem  so genannten Studium Generale, im zweiten Jahr entscheiden sie sich für einen von fünf Studiengängen: Computerwissenschaften, Ingenieurswesen, Architektur, Intercultural Studies oder Wirtschaftswissenschaften.

Das Projekt stieß schnell auf positive Resonanz. „Wir stehen derzeit in Kontakt zu 108 interessierten Hochschulen“, sagt Nora Hauptmann vom Kiron-Kernteam. 15 Unis hätten bereits Studienplätze für das dritte Jahr zugesagt. Wovon sie letztlich auch selbst profitieren: Die Abbrecherquoten an deutschen Unis sind hoch. Die Hochschulen können die leeren, bereits finanzierten Plätze mit Flüchtlingen auffüllen. Mehr Absolventen bedeuten wiederum mehr Zuschüsse von den Landesministerien.

Die Mitbewohner stehen mit Rat und Tat zur Seite Foto: Sascha Lübbe
Die Mitbewohner stehen mit Rat und Tat zur Seite Foto: Sascha Lübbe

Für die Flüchtlinge ist die Ausbildung gratis. Für Kiron entstehen pro Flüchtling Kosten von 400 Euro im Jahr, darin enthalten sind IT- und Verwaltungsposten. Um sie zu decken, hat das Team eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Aktueller Spendenstand: 190.000 Euro. Die Pilotphase konnte so finanziert werden, für 1.000 Teilnehmer begann im Oktober das Semester.

Über Crowdfunding finanzierte Bildung? Das Modell könnte sich auch für deutsche Studenten als Alternative zum bürokratischen Bafög-System oder zur Stipendienvergabe  erweisen. Schon heute sind schwarmfinanzierte Forschungsprojekte üblich. Aber auch für den Umgang von Hochschulen mit Flüchtlingen ist die Kiron University richtungsweisend. Inzwischen bieten viele deutsche Unis Asylbewerbern die Möglichkeit, als Gasthörer an Seminaren teilzunehmen. Anrechnen lassen können sie sich die Kurse allerdings nicht. Mit dem dem neuen Modell gibt es jetzt die Möglichkeit, über andere Wege anrechnungsfähige Scheine zu sammeln.

Zurück zu Abdimalik. Er hat sich für das Fach Intercultural Studies entschieden. „Ich komme aus einer ganz anderen Kultur, als die, in der ich jetzt lebe“, sagt er. „Ich möchte wissen, was so eine Erfahrung mit Menschen macht.“ Abdimalik lebt nicht in einem Flüchtlingsheim, sondern in einer WG mitten im Zentrum. Seine Mitbewohner: vier Künstler der UdK, die die einstigen Büros eines ehemaligen DDR-Verwaltungsgebäude als Schlafräume und Ateliers nutzen. Der Kontakt zwischen ihnen und dem Somalier kam über die Internetplattform „Flüchtlinge Willkommen“ zustande. Auf der Website können WGs, die einen Flüchtling aufnehmen wollen, ihr Zimmer inserieren. Die Mitarbeiter suchen dann über ein Netzwerk aus NGOs und Heimmitarbeitern nach einem passenden Mitbewohner.

Die Berliner Jonas Koschke und Mareike Geiling haben die Initiative 2014 ins Leben gerufen, nachdem sie selbst einen Flüchtling bei sich aufgenommen hatten. 150 Flüchtlinge hat das Team bislang vermittelt, mit fast ausschließlich positiver Resonanz.

Seit dem Einzug des Somaliers sitzen sie viel zusammen in der Küche oder gehen zu Ausstellungen. Manchmal begleitet Abdi, wie sie ihn nennen, sie auch zu offenen englischen Vorlesungen an der Uni. Abdimalik findet sein neues Zuhause aufregend. In seiner Heimat habe sich alles um angesehene Berufsfelder wie Medizin und Wirtschaft gedreht. „Hier hingegen habe ich immer Kunst um mich. Das ist toll.“ Er wolle in Berlin bleiben, könne sich vorstellen, nach dem Bachelor noch einen Master zu machen und zu promovieren.