Politik

Moabit: ein Stadtteil mit Talent zur Selbstironie

Reif für die Insel - in Moabit hat sich im letzten Jahr viel verändert, aber zum Glück nicht alles.
Hier gibt es noch die Chance, es besser zu machen. Besser als in Prenzlauer Berg und Mitte.

Sie könnte auch in der Sonne liegen, unter Palmen, und dem Rauschen des Meeres lauschen. Aber die Jamaikanerin Barbara Saltman hat sich für eine andere Insel entschieden: für Moabit. Der Stadtteil inmitten Berlins, umschlossen von Wasser, ist ihr Zuhause. Hier betreibt sie ihr karibisches Restaurant Ya-Man – statt Palmen stehen Topfpflanzen auf dem Bürgersteig der Gotzkowskystraße, hier werden Cocktails mit Namen wie „Make me beautiful“ serviert, hundert Meter weiter liegt der ­Moabiter Strand, das Spreeufer. Barbara Saltman hat immer ein Strahlen im Gesicht. Sie liebt ihre Insel.

Warum Moabit? Für viele Berliner klingt das noch immer nach Spielcasinos und Spelunken. Nach Grabbeltischen und Gemüse­händlern. Nach Justizvollzugsanstalt und Jobcenter. Früher Arbeiter- heute Arbeitslosenkiez. Das ist Moabit. Wenn man es nicht besser weiß.Wer aber an einem Herbsttag auf der Moabiter Brücke steht, der sieht die Sonne auf dem Wasser glitzern. Der Wind wiegt die Äste der Trauerweiden am Ufer. Die vier gusseisernen Bären sitzen auf ihren Brückenpfeilern. Sie halten die Köpfe gesenkt, als wollten sie alle begrüßen, die vom ­S-Bahnhof Bellevue kommen, hier das Wasser überqueren und die Insel mitten in der Stadt erreichen: das Rechteck zwischen Spree, Spandauer Schifffahrtskanal, Westhafenkanal und Charlottenburger Verbindungskanal, durch 25 Brücken mit dem Rest der Welt vernetzt. Wer also dort auf der Brücke steht – Ausflugsdampfer gleiten unter den Füßen hindurch, ein Angler hält seinen Köder ins Wasser der Spree –, der fragt sich nicht: Warum Moabit? Der fragt sich: Warum eigentlich irgendein anderer Stadtteil?

Der Blinddarm von Mitte

Lange war der Stadtteil das Stiefkind der Stadt. Während östlich der ehemaligen Mauer nach der Wende fleißig aufgewertet wurde, schlummerte die Turmstraße – in den 60ern noch ein Boulevard wie der Ku’damm – in der Trostlosigkeit der Ein-Euro-Läden. Doch nach dem Beusselstraßen- und dem Stephankiez ist seit 2011 auch das Areal rund um die Turmstraße Sanierungsgebiet. Zu zentral liegt der Stadtteil, zu sehr wird auf die Zugkraft des Hauptbahnhofs gesetzt, als dass man ihn bei der derzeitigen Wohnungsmarktsituation weiter vernachlässigen könnte. Der Moabiter weiß schon lange: „Moabit ist Beste“. Der Slogan, propagiert vom selbsternannten Bürgermeister Kapitän Kiez, steht auf Stickern, T-Shirts und Tassen. Je schlechter der Ruf, desto größer der Kiezpatriotismus. Maskottchen Moabit. Oder, wie Kapitän Kiez es ausdrückt: „der Blinddarm von Mitte.“

Diese Selbstironie ist es, die den Stadtteil so liebenswert macht. Wer einmal über den Streetfood-Markt in der Kreuzberger Markthalle Neun geschlendert ist und im Anschluss die Moabiter Arminiushalle – 2010 als „Zunfthalle“ neueröffnet –  besucht, der spürt den Unterschied. Während sich in Kreuzberg die gleichgestylten Gleichaltrigen im Schaulaufen üben und kreative Köstlichkeiten konsumieren, wirkt die Zunfthalle herrlich unaufgeregt. Da gibt es „Honig von entspannten Bienen und Fleisch von gestreichelten Tieren“. Der riesige Biertisch vom Brewbaker wird per Schild als „Mutter aller Tische“ tituliert. Und am Hallenimbiss, wo einst „Die drei Damen vom Grill“ gedreht wurde, hängen immer noch die Bilder von Harald Juhnke und Kollegen – und der Spruch: „Wie een Kuss uff zarte Wange schmeckt jede Wurst von Kläuschen Lange.“

Die Stammkunden im Drei-Mädel-Eck, ­einer Kneipe neben der Zunfthalle, mögen das neue Gesicht der Arminiushalle trotzdem nicht. „Schicki-Micki-Scheiße!“ Zu neu, zu fremd, zu teuer. Seit über hundert Jahren trinken Moabiter in der Kneipe ihren Kümmerling. Elvira, 59, ist seit 24 Jahren Pächterin. Sie sagt: „Markthalle kommt von Markt.“ Damit habe das nichts mehr zu tun. Der Streetfood-Zirkus in Kreuzberg ist ihr nicht bekannt. Deshalb ahnt sie nicht, wie angenehm unprätentiös die Zunfthalle eigentlich ist. Andere Neuerungen stoßen selbst bei Elviras kritischen Gästen auf Zustimmung: die Umgestaltung von Kleinem Tiergarten und Ottopark zum Beispiel, abgesehen von den riesigen Dekosteinen – „Da kann man noch nicht mal drauf sitzen! Und was das gekos­tet haben muss!“ Und sogar das schicke Café von dem netten Mädel, ein paar Häuser weiter, wird gelobt. „Sowas muss es ja auch geben.“

Das Beste aus zwei Welten

Dieses Café könnte auch am Kollwitzplatz stehen. Blümchentapete, Kronleuchter, weiße Möbel, karierte Kissen. In der Vitrine leuchten Kuchen und Torten in allen Farben, dazu gibt es Kürbis-Schorle, Aufguss von der Pink Grapefruit und heiße weiße Rosmarinschokolade. Eine junge Frau und ihr Lebens­traum. Im April hat Antje Menz das Café Natürlicher Lebensraum eröffnet. Seit vier Jahren lebt sie in Moabit, schon seit zwei Jahren wollte sie ein Café eröffnen. Einen Kredit mochte ihr keiner geben. „Schönes Konzept“, sagten die Banken. „Aber bitte – suchen sie sich einen anderen Stadtteil!“ Jetzt hat es geklappt. Auch die Banken ahnen langsam: Moabit ist Beste. Beste Lage. Beste Anbindung. Bes­te wunderschöne Altbauten.

Antje Menz freut sich, fürchtet aber auch die Folgen der Aufwertung und hofft auf eine weiterhin gemischte Kundschaft. Ein Stück weiter, im Stephankiez rund um den Stephanplatz ist der Boom in vollem Gange: An den weißgetünchten Fassaden werden Eigentumswohnungen beworben. In einer perfekten Welt wäre immer beides möglich: Aufwertung und Milieuschutz. Eigentumsloft und Hartz-VI-Wohnung. Moderne Infrastruktur und Westberliner Piefigkeit. In Moabit kommt jetzt der Knackpunkt. Welche Projekte für den Sanierungskiez Turmstraße werden gefördert? Welche Mietenpolitik kann die aktuelle Moabiter Mischung – Alteingesessene, Studenten, Loftbesitzer – erhalten?

Klar ist: Moabit war nie spannender als jetzt. Unklar ist, ob es das Drei-Mädel-Eck und Barbara Saltmans kleines Jamaika-Res­taurant in drei Jahren noch geben wird oder nur noch Cafés mit Blümchentapeten. Kneipenwirtin Elvira hat eine Idee: „Die können sich doch drüben bei dem Mädel ein Stück Kuchen holen und den dann hier essen. Kaffee ha’ick ooch.“