Das Berliner Theaterjahr 2016 hielt manch hübsche Aufführung bereit – vor allem aber war es ein Jahr der Abschiedsinszenierungen

Wir sind uns wohl einig, Herrschaften, 2016 war ein mieses Jahr: Der Tod vieler geschätzter Popikonen, der erstarkende Rechtspopulismus ringsum, Brexit, Trump-Wahl und Terror allerorten lassen das Jahr schlecht aussehen.
War das Berliner Theaterjahr wenigstens besser?
Nun, meist sorgte es weniger mit Inszenierungen als mit Personalien für Aufregung. So entblödete sich das Berliner Staatsballett in einem Video nicht, die Berufung der renommierten Choreografin Sasha Waltz zu seiner neuen Leiterin ab 2019 mit dem Untergang des Abendlandes und den Folgen des Klimawandels gleichzusetzen, weil Waltz keine klassische Ballettchoreografin sei.
Auch die anstehende Ablösung von Frank Castorf durch den Belgier Chris Dercon an der Volksbühne war und ist für manche Gemüter weiter ein Erregungsdauerbrenner – doch selbst der neugewählte Kultursenator und Castorf-Fan Klaus Lederer vermochte dann doch an der Personalie nichts mehr zu ändern.
Weil 2017 Castorf also nach 25 Jahren die Volksbühne verlassen wird und dazu Claus Peymann nach 18 Jahren das Berliner Ensemble, galt es bereits einige Abschiede zu nehmen. So hat am BE Stammregisseur Robert Wilson mit „Endspiel“ zum letzten Mal sein längst zum Kunsthandwerk verkommenes Designertheater inszeniert. Und an der Volksbühne nahmen Herbert Fritsch mit „Pfusch“ und Christoph Marthaler mit „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ fulminant ihren Ausstand vom Bühnentempel am Rosa-Luxemburg-Platz.
Unsere Lieblinge
Marthalers Stück ist nun von den ZITTY-Theaterkritikern zur Lieblingsinszenierung im Theaterjahr 2016 gewählt worden. In „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ reflektiert Marthaler deutlich seine Kult-Inszenierung „Murx ihn!“, mit der er 1993 erstmals seine Handschrift in die Volksbühne einbrachte.
Dieser damals im zeitgenössischen Theater neue Ton aus Melancholie, Humor und Entschleunigung wird nun auch in der Abschiedsinszenierung angeschlagen, die gleichzeitig ein angenehm unaufgeregter, ironischer Kommentar zur Ambivalenz konservierter Kunst und Status-quo-Hysterie ist und damit zur Volksbühnendebatte. Schmutzränder an den leeren Wänden zeugen von allzulang ausgestellten Bildern (Bühne: Anna Viebrock), wie Museumsexplonate werden zu Beginn die vertrauten Protagonisten aus „Murx ihn!“ in den Saal gerollt. Melancholisch schön.

Platz zwei in unserem Ranking teilen sich interessanterweise zwei Inszenierungen, die mit ganz jungen Darstellern arbeiten: „2 Uhr 14“ vom Jungen DT und „Five Easy Pieces“ von Milo Rau. Kristo Šagor findet in seiner Regiearbeit für die Jugend-Sparte des Deutschen Theaters starke Bilder für das Netz aus Leidenschaften und Selbstzweifel, in dem sich seine jungen Protagonisten in dieser seltsamen Lebensphase namens Pubertät verstricken.
In Milo Raus „Five Easy Pieces“ bringen acht- bis 13-jährige Kinder das Leben des belgischen Kinderentführers und -mörders Marc Dutroux auf die Bühne. Die verstörende Koproduktion der Sophiensaele mit dem Kunstenfestival Brüssel thematisiert Macht, Gefühle und kindlichen Spieltrieb und reflektiert gleichzeitig Fragen von Privatheit und Repräsentanz auf der Bühne. Das Wunder: So sehr das Geschilderte auch an die Nieren geht, so seltsam beglückt verlässt man am Ende das Theater.

Anders als in Belgien oder in Frankfurt am Main, wo der Aufführung die bei der Mitwirkung von Kindern nötige Auftrittsgenehmigung vom Amt verweigert wirde, löste im gerne daueraufgeregten Kulturbetrieb Berlins die Frage, ob man mit Kindern ein Stück über Mord und Missbrauch spielen darf, keine Debatte aus. Da muss dann wohl Dercon ran. Friedhelm Teicke
Top 10 der ZITTY-Theaterautoren
1 „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“, Christoph Marthaler, Volksbühne
2 „2 Uhr 14„, Kristo Šagor, Box im Deutschen Theater
„Five Easy Pieces“, Milo Rau, Sophiensaele
4 „Berlin Alexanderplatz“, Sebastian Hartmann, Deutsches Theater
„Der Theaterautomat“, Angelina Kartsaki und Sebastian Schlemminger, Schaubude
„Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehres“, Milo Rau, Schaubühne
„Pfusch“, Herbert Fritsch, Volksbühne
„Schatten: Eurydike sagt“, Katie Mitchell, Schaubühne
„Stella“, Peter Lund, Neuköllner Oper
„Vu„, Compagnie Sacékripa, Schaubude
Abgestimmt haben: Regine Bruckmann, Mariama Diagne, Hermann-Josef Fohsel, Barbara Fuchs, Gerd Hartmann, Stefan Hochgesand, Annett Jaensch, Georg Kasch, Tom Mustroph, Anne Peter, Christian Rakow, Axel Schalk, Susanne Stern, Friedhelm Teicke
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