Mein Kiez

Der Gesundbrunnen

Wo wohnst du eigentlich? zitty-Autoren schreiben über ihren Kiez. Über die Straße, in der sie leben, über den kleinen Laden an der nächsten Ecke, über nette und weniger nette Nachbarn. Diesmal: der Gesundbrunnen

Wenn ich einem Menschen begegne, den ich nicht kenne, versuche ich erst einmal das Beste von ihm anzunehmen – auch wenn mir andere die schlimmsten Dinge über ihn erzählt haben. Mit dem Gesundbrunnen bin ich genauso verfahren. Zugegeben: Er macht es einem nicht leicht. Aber noch immer schließe ich die Möglichkeit nicht aus, dass es sich in diesem Stadtteil leben lässt. Und dabei wohne ich schon seit drei Monaten hier.
Erzähle ich Freunden von meinem neuen Wohnort, rufen die entweder: Hey, das wird das nächste In-Viertel, cool! Oder sie sagen erst einmal gar nichts. Und ich sehe nur dieses Gesicht, das einen seltsam distanzierten Ausdruck annimmt.
Der Gesundbrunnen grenzt im Osten an Prenzlauer Berg und im Süden an Mitte. Noch prägen Automatencasinos, Lidl und Matrazenlager das Bild. Arbeiter in besprenkelten Kitteln. Männer und Frauen mit vom Alkohol ausgezehrten Gesichtern, in Flanelljacken und Jogginghosen, die an Stromkästen stehen und ihre Schultheiß-Flaschen darauf abstellen wie auf Kneipentheken.
Doch immer öfter steigen auch Studenten in H&M-Kleidung dann erst aus der U8, wenn ich aussteige, also außerhalb des S-Bahnrings. Und hin und wieder bemerke ich selbst nördlich der Osloer Straße Umzugswagen, die vor frisch gestrichenen Altbauten parken und aus denen junge Menschen Möbel hieven.
Der Gesundbrunnen ist mir ein Rätsel: Sozialer Brennpunkt oder der nächste Prenzlauer Berg? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht habe ich mich deswegen bei Habib und Etizaz angemeldet, zwei Brüdern mit Eltern aus Pakistan, die durch den Kiez führen, in dem sie aufgewachsen sind.
Wir stehen vor der Willy-Brandt-Oberschule in einer Seitenstraße der Badstraße und Etizaz erklärt uns das Viertel: „Jeder will der King sein“, sagt der 17-Jährige mit Kapuzenpulli und steckt die Hände in die Hosentaschen. „In den Klassen gibt es Gruppen – Deutsche, Araber, Türken oder gemischt. Und in jeder Gruppe gibt es einen King. Der will natürlich auch der King der Schule sein, deswegen kriegen die sich in die Haare.“
Noch vor drei Jahren sei einmal pro Woche ein Polizeiauto über das Kopfsteinpflaster der Grüntaler Straße vor die Schule gerumpelt, weil Schüler sich geprügelt oder Lehrer mit Waffen bedroht hätten. Doch seitdem zehn Sozialpädagogen mit Migrationshintergrund eingestellt worden seien, gäbe es kaum noch Polizeieinsätze.
„Und die Kings sind jetzt alle Streber?“, fragt ein Mann mit Kinnbart und Brille, woraufhin die zwölf Teilnehmer lachen, darunter eine Rentnerin aus Steglitz, drei Schweizerinnen und drei Ethnologie-Studentinnen, die das Viertel erforschen wollen. Habib mit der umgedrehten Air-Jordan-Schirmmütze nickt und sein Bruder Etizaz will etwas klarstellen: „In den Medien wird nur berichtet: Die Ausländer haben wieder Scheiße gebaut, um es auf Deutsch zu sagen, der Wedding ist schlecht – aber das stimmt nicht. Sie merken nicht, was hier passiert.“
Wenn die beiden Brüder vom Wedding sprechen, meinen sie eigentlich den Gesundbrunnen: Seit 1991 gehört der offiziell nicht mehr zum Wedding, sondern ist ein eigenständiger Ortsteil von Mitte. Im Sozialatlas Berlin belegt der Gesundbrunnen regelmäßig einen der hinteren Ränge, im aktuellen Bericht ist von einer „sehr niedrigen Entwicklung“ die Rede. Ich lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen.

 

„Knoblauch oder Kräuter, Bruder?“

Seit sechs Jahren lebe ich in Berlin, zuletzt in Kreuzberg und Neukölln. Eigentlich wollte ich dort bleiben. Aber weil ich Mietwucher und Massenbesichtigungen satt hatte, bin ich nach Gesundbrunnen gezogen: in eine Wohnung mit viel Platz und Licht, einer Wiese auf dem Dach und mit Nachbarn, die man beim Vornamen anspricht.
Kurzzeitige Zweifel haben sich noch während des Umzugs angemeldet: Als auf dem Trittbrett des Möbelwagens ein junger Mann sitzt, mit glasigem Blick und Bierflasche in der Hand. Und ein Freund von mir ihm sagt, er solle aufstehen; er sich also hinstellt, mit den Händen fuchtelt und dabei zischt: „Fu! Fu!“ Später hat er noch angeboten, zu helfen. Ob er es aber überhaupt in den ersten Stock geschafft hätte, weiß ich nicht.
Anders als es der Eindruck erwarten lässt, sind die Menschen hier freundlich. Wie der libanesische Falafel-Verkäufer in der U-Bahnstation Osloer Straße, der alle seine Kunden notorisch mit „Bruder“ anredet. „Bruder, willst du Knoblauch oder Kräuter?“
Attitüden gibt es keine. Mode auch nicht. Familienväter tragen Ohrringe und weiße Pullover mit Punkten darauf, die selbst in den 80er-Jahren nicht angesagt gewesen sein konnten. Es kümmert sich kein Schwein darum.
Das ist angenehm. Und so gerne ich auch in Kreuzberg und Neukölln gewohnt habe, so wohltuend ist es, nicht mehr auf die Hipster in den Cafés und Kneipen zu treffen, die von ihren nächsten Projekten schwadronieren. Auf das Szenevolk, das Sternburg trinkt und wieder Schnurrbart trägt. Sondern auf normale Menschen. Echtes Leben, abseits von Klischees und gestylten Selbstbildern. Obwohl, was ist schon normal?
Der Tross um Habib und Etizaz verlässt die Badstraße und biegt in einen Hinterhof. Zwischen der Firma Glasreiniger Kuttnick und einer Firma für Reinigungsgeräte steht ein ehemaliges Lagerhaus, in dessen Fenstern Fotos hängen, von der Kaaba in Mekka. Habib drückt die Klinke der Tür hinunter und wir betreten den Vorraum der Pak-Mohammed-Moschee. Nachdem wir unsere Schuhe ausgezogen haben, huschen wir in den Gebetsraum der Männer, der mit einem Orientteppich ausgelegt ist. Es riecht nach  Socken.
Vor zwei Jahren habe er angefangen, regelmäßig zu beten, sagt Habib. Überhaupt würden immer mehr Jugendliche beten. Die Rentnerin aus Steglitz sagt, sie habe im Radio von einem Experten gehört, dass die Kopftuchpflicht gar nicht im Koran stehe. Ein Mann unterbricht sein Gebet, der graue Bart und die weißen Kappe drehen sich. „Doch, doch“, sagt er und nickt. Habib wendet den Kopf zur anderen Seite in die Ecke des Gebetsraums. „Ich kann ja mal den Imam fragen“, sagt er und spricht auf Arabisch zu einem Mann, der im Schneidersitz sitzt. Der grummelt. Schweigt. Dann erklärt er, Habib übersetzt: In der Familie sei es egal, aber vor fremden Leuten müsse sich die Frau verhüllen. Das Gesicht dürfe frei bleiben. Später gehen wir noch in den Gebetsraum der Frauen, an den die Küche angrenzt und in dem aus Geldmangel nur Teppichboden ausgelegt ist und Kälte in die Füße kriecht.
Zurück auf der Straße. Arabische Männer sitzen vor einem Orient-Laden, in dem es Teppiche, Gebetstafeln und Wasserpfeifen zu kaufen gibt. „Ach, ich dachte das seien Kerzenständer!“, ruft die Rentnerin aus Steglitz. Auf den Glasscheiben einen Stock höher steht „Super Billard“ und zwei Beck’s-Flaschen kreuzen sich.
Im Gesundbrunnen gilt die Regel der Toleranz: Jeder wird akzeptiert, wie er ist. Nicht angeglotzt. Nicht angequatscht. Man will schließlich selbst seine Ruhe. Hinterhofmoschee und Eckkneipe existieren in friedlicher Koexistenz.
Nur: Irgendetwas fehlt dabei. Wenn ich mit der U8 nach Kreuzberg fahre, um Freunde zu besuchen, den Schacht verlasse und an den Kneipen, den Altbauten und den kleinen Plätzen vorbeigehe, fällt in mir eine innere Spannung ab. Ich fühle mich augenblicklich leicht. Zuerst konnte ich gar nicht sagen, warum. Dann kam ich drauf: Die Menschen lachen. Jedenfalls deutlich häufiger als im Gesundbrunnen. Der ist eben nicht Studentenkiez, sondern immer noch Arbeiterviertel. Was aber nicht heißt, dass sie hier keinen Humor hätten. Wenn ich mit der Straßenbahn fahre, prüfe ich jedes Mal, ob das Schild in einem Schaufenster in der Osloer Straße noch hängt, auf dem „Gentrify this!“ steht. Es hängt noch.

 

 

Der Gesundbrunnen war ursprünglich eine Quelle. Aber eine ganz besondere:

Eine heilende und jugenderhaltende Wirkung wurde ihr zugeschrieben

 

 

Wie ein gestrandetes Kreuzfahrtschiff

Nach der Wende ist die Moderne nicht nur mit der Straßenbahn in den Gesundbrunnen eingezogen, sondern auch mit einem zweiten Bau: Dem Gesundbrunnen-Center. Wie ein gestrandetes Kreuzfahrtschiff ragt es aus dem Bahnhof an der Brunnenstraße heraus. Ein Konsumtempel mit 25.000 Quadratmetern Verkaufsfläche.
Ein angenehmer Gegenpol dazu ist der Bierbrunnen auf der Straßenseite gegenüber. Die Spelunke wirbt mit dem Slogan: „In ist, wer drin ist.“ Und knüpft mit dem Kneipennamen an die Ortsgeschichte an.
Der Gesundbrunnen war ursprünglich eine Quelle. Aber eine ganz besondere: Eine heilende und jugenderhaltende Wirkung wurde ihr zugeschrieben. Und so kamen die Berliner aus der Stadt angereist, um ihre Rheuma- und Augenleiden in den Gärten, Bade- und Trinkhäusern zu lindern. Der Kurort breitete sich rund um die Quelle aus. Die wird von den Alteingesessenen noch heute „Plumpe“ genannt – auch wenn es sie längst nicht mehr gibt: Während Bauarbeiten im Jahr 1882 wurde sie versehentlich zugeschüttet.
An den Kurpark erinnert noch der Volkspark Humboldthain mit seinem Rosengarten, aber auch das historische Kurhaus am Luisenbad, wo heute die Bezirksbibliothek untergebracht ist. Ein Refugium direkt hinter der Badstraße. Wenn ich Zeit habe, stöbere ich in den Büchern und setze mich auf die Steinstufen unter dem Ahornbaum neben der mit bunten Klinkern verkleideten Kaffeeküche, in der heute nur noch Bücher lagern. Oder ich radle den Grünzug der Panke entlang, der sich bis nach Mitte schlängelt. Vorbei an den Fabrikhallen und Schloten aus Ziegelstein, vorbei an den Reihenhäusern, Spielplätzen und Gärten, in denen das Gras wuchert und der Schrott sich stapelt.

 

Kommen jetzt die Yuppies?

Am Ende der Führung biegen wir in die Buttmannstraße ein. „Das war früher auch Problemviertel“, sagt Habib. Jetzt ist davon nichts mehr zu sehen. Altbauten mit renovierten Fassaden reihen sich aneinander, an beiden Seiten der Kopfsteinpflasterstraße sind Bäume gepflanzt, durch deren Äste und Blätter die Sonne schimmert. Zwei junge Männer halten und fragen neugierig, was wir machen, beide in Lederschuhen, der eine im beigen Stoffmantel und mit Föhnfrisur. Yuppies. Ist das die Zukunft des Gesundbrunnens?
Ich hätte nichts dagegen, sollte der nächste Berliner Sozialatlas doch einmal eine „positive Entwicklung“ im Gesundbrunnen feststellen. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn es den Menschen besser ginge und das Drückende und der Ernst ein wenig aus ihren Gesichtern wiche.
Aber bis dahin sage ich mir, dass die schönen Dinge eben umso mehr ihre Wirkung entfalten, je weniger man sie erwartet. So laufe ich neulich abends über den Parkplatz des „Ekelnorma“, wie der Discounter von den Bewohnern in meinem Haus genannt wird. Autoscheinwerfer blitzen auf. Ein schwarzer Mercedes hält vor mir. Die Tür geht auf und es steigt eine Türkin in einem weißen Brautkleid aus. Dunkle Augen, feine Gesichtszüge. Männer in Anzügen eilen um das Auto herum, um die Braut in eine Halle zu führen, deren Fassade bröckelt. Was für ein Stolz in den Augen der Hochzeitsgäste, was für ein Stolz in den Augen der Braut.
Nach wenigen Minuten ist das Spektakel vorbei und zurück bleiben nur die Passanten, die unter dem Konterfei von Daniela Katzenberger auf dem Poco-Domäne-Schild zur U-Bahn gehen.