Partizipation

Die Grenzen des politischen Protests

Autos brennen, Neonazis werden zusammengeschlagen, linke Wohnprojekte angezündet. Extremisten haben in Berlin die Grenze überschritten. Aber wie weit darf man gehen, wenn Nazis marschieren? Ist Sitzblockade Bürgerpflicht, sind Wasserbomben noch in Ordnung? Die Geschichte einer Eskalation und die Frage an Prominente nach ihrer Schmerzgrenze

Der erste Schlag kommt aus dem Hinterhalt. Es ist der 25. Juni, ein heißer Sommersamstag, der Mann hat gerade eine Freundin besucht und ist auf dem Weg zur S-Bahnstation Bornholmer Straße. Doch er kommt nur bis zur Bösebrücke, dort lauern ihm seine Angreifer auf. Sie schlagen ihm auf den Hinterkopf, er geht zu Boden. Der Schlägertrupp tritt weiter auf ihn ein, mit den Armen versucht er seinen Kopf zu schützen. Fünf Täter seien es gewesen, maskiert und willens, ihn zu töten. So erzählt es das  Opfer. Der Mann schreit vor Schmerzen, die Angreifer schweigen, kein Wort sei während des Überfalls gefallen. Nur einige Meter entfernt stehen Touristen, sie rufen nach Hilfe. Bevor die Täter von ihm ablassen, sprüht ihm einer Reizgas in die Augen.
Das Opfer heißt Uwe Meenen. Uwe Meenen, der Neonazi. Der Franke ist Landesvorsitzender der Berliner NPD und mitverantwortlich für ein Wahlprogramm, das ausdrücklich den Abriss aller Minarette und „Deutsch von Ahrensfelde bis Zehlendorf“ fordert. Er ist nicht das einzige Opfer gezielter Angriffe auf Rechtsextreme: Einige Stunden vor dem Überfall auf den Landeschef wurde auch Vorstandsmitglied Sebastian Thom in Neukölln zusammengeschlagen, wenige Tage zuvor Jan Sturm, der für die NPD in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung sitzt.
Seitdem steht eine Frage im Raum: Darf man das? Wo ist die Schmerzgrenze, wenn Nazis marschieren? Sind Sitzblockaden Bürgerpflicht, Wasserbomben noch in Ordnung? Ist Gewalt gegen Nazis opportun, weil sie nur Gegengewalt ist? Es sind Fragen, die sich nicht nur die Linksextremen stellen. Schläge gegen Neonazis bringen mehr Verständnis als das Zündeln von Autos. Der breite Konsens ist: keine Gewalt. Tatsächlich aber verschafft es vielen stille Genugtuung, wenn die Antifa Infostände der NPD ins Visier nimmt – so geschehen Ende Juni, als Unbekannte zwei Wahlhelfer in Tempelhof beleidigten und mit Lackfarbe bespritzten.

Senator Körting lässt NPD-Stand schützen
Doch jetzt ist die Gewalt eskaliert. An den politischen Rändern finden sich Gruppen, die vor nichts zurückschrecken. Nur 36 Stunden nach dem Angriff auf Uwe Meenen steht das Anton-Schmaus-Haus im Neuköllner Ortsteil Britz in Flammen. Die „Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken“ ist Eigentümerin des Gebäudes, dessen Fassade vom Feuer zerstört wird, die Inneneinrichtung erledigt das Löschwasser. Drei Stunden später schreckt ein Feuermelder die Bewohner des Tuntenhauses in Prenzlauer Berg auf, weil an der Haustür des alternativen Wohnprojektes Feuer gelegt wurde. In der Wilhelmstraße in Kreuzberg brennen zwei Autos vor dem Tommy-Weisbecker-Haus, in dem sich ebenfalls ein alternatives Wohnprojekt einquartiert hat. Insgesamt fünf Brandanschläge werden in dieser Nacht von Sonntag auf Montag verübt, Höhepunkt eines Wochenendes der Gewalt. Zweimal waren Hausbewohner unmittelbar gefährdet, nur mit Glück wurde niemand verletzt.
Es folgten wieder einzelne Übergriffe auf beiden Seiten. In der Theorie ist Gewalt in der rechten Idelogie ein Selbstzweck, bei Linken nur ein Mittel zur Gegenwehr (siehe Interview, Seite 19). Die Realität sieht anders aus. Inzwischen lässt Innensenator Ehrhard Körting (SPD) Infostände der NPD von seinen Beamten schützen. Körting hat keine Alternative, die Partei ist nicht verboten und kann deshalb einfordern, vor Übergriffen geschützt auf Stimmenfang zu gehen. Körting ist mit seiner Geduld ohnehin am Ende. Für ihn ist Gewalt gleich Gewalt, egal ob gegen links oder rechts: Schon vor zwei Jahren nannte er Linksautonome „rotlackierte Faschisten“ und verwischte damit die Grenzen zwischen Antifa und Neonazis. Und in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ spricht er vom „primitiven Volk der Autonomen und Neonazis“, die er abermals  „auf demselben brutalen Niveau“ verortet.
Die NPD wird offensiver. Am 14. Mai zogen Rechtsextreme durch Kreuzberg, skandierten „Deutschland den Deutschland, Ausländer raus“. Den Mehringdamm als Kundgebungsort gab die Polizei nicht bekannt. Es kam dennoch zu Zusammenstößen mit Gegendemonstranten. Die Antifa veröffentlichte anschließend Fotos und Namen der Teilnehmer. Ein Monat später, am Jahrestag des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953, provozierten 30 Rechte mit einem Aufmarsch in der Nähe des Karl-Liebknecht-Hauses, der Zentrale der Linkspartei.
Lüko Becker kennt das alles: Nazis, Gegendemos, Randale. Seit 30 Jahren lebt er in Kreuzberg, in den 80er Jahren hat er um Häuser gekämpft und, so sagt er, „Nazis, die das SO36 terrorisierten, aus Kreuzberg geprügelt“. Heute ist der 51-Jährige Rechtsanwalt. Im Kiez ist er geblieben, sein Büro liegt in der Oranienstraße.
Becker ist eine linke Konstante hier, einer, der nie einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit gezogen. Für die Serie von Brandanschlägen auf Autos der Oberklasse seien Sozialneid und Abenteuerlust verantwortlich, „wohl kaum politische Ideen – das sage ich als Autofahrer und Linker.“ Gewalt, sagt Becker, sei immer nur Ultima Ratio. Trotzdem sei er sich sicher, dass „sich einige Nazis nur zurückhalten, wenn sie im Knast landen oder es anders beigebracht kriegen.“ Was „anders“ konkret bedeutet, hänge vom Einzelfall ab. So sieht er die jüngsten Überfälle auf NPD-Kader ambivalent, die seien keine Notwehr, sondern pure Aggression gewesen. Dennoch: „Mein Mitleid hält sich in Grenzen, wenn Naziläden plattgemacht werden oder die mal was aufs Maul bekommen.“ Um als  Staatsbürger aufrecht gehen zu können, müsse man Nazis die Stirn bieten – am besten mit zivilem Ungehorsam.
Uwe Meenen hat mehr zu spüren bekommen als zivilen Ungehorsam. Der Berliner NPD-Chef könnte erklären, ob sich die NPD tatsächlich Wahlerfolge in Kreuzberg erhofft oder nur mit aller Macht provozieren will. „Bevor man beliebt wird muss man bekannt werden“, sagt er. „Das Zitat ist nicht von mir, aber von einem, der was von Propaganda verstanden hat.“ Wer das war, verrät er nicht. Die Assoziation zu Joseph Goebbels scheint ihm zu reichen.
Der Überfall hat keine Spuren bei ihm hinterlassen, keine Hämatome, Platzwunden, Prellungen. Den schwarzen Ledermantel, in dem er auch auf Fotos in NPD-Broschüren zu sehen ist, legt er während des Gesprächs nicht ab. So martialisch er auch wirkt, verbal gibt er sich friedlich. Meenen ist keiner, der sich zu Unbedachtem hinreißen ließe, keiner, der den Blick freigibt auf das, was er wirklich denkt und vielleicht sagt, wenn die graue Eisentür am Eingang der Parteizentrale in Köpenick wieder hinter Journalisten schließt. Stattdessen Ablenkungsmanöver, Gegenfragen und Andeutungen: Ist Uwe Meenen ein Nazi? „Sagen wir mal so: Ich hätte gerne das Recht dazu, einer zu sein.“
Kein Geld und weniger Mitglieder: Meenens NPD ist in der Krise. Allein in Berlin verlor sie 50 ihrer 300 Mitglieder. Die Fusion mit den rechtsextremen Kameraden von der DVU brachte nichts als Ärger. Darüber hinaus muss die Partei nach mehreren Finanzaffären staatliche Mittel in Millionenhöhe zurückzahlen. Meenen lacht darüber: „Sie können sich darauf verlassen, dass die NPD immer eine volle Kriegskasse hat.“ Im mit Stacheldraht geschützten Innenhof der Parteizentrale lagern in einem Schuppen zwölf mannshohe Stapel mit tausenden Wahlplakaten. Doch nicht die vielen greisen Altmitglieder werden Hauswände, Laternenpfähle und Strommasten bekleben: „Dafür haben wir unsere freiwilligen Helfer“, sagt Meenen.
Wer diese Helfer sind, ist im Jahresbericht des Berliner Verfassungsschutzes nachzulesen. Im rechtsextremen Spektrum unterscheidet die Behörde zwischen „parlamentsorientierten“ Organisationen, wozu hauptsächlich die NPD zählt, und „aktionsorienten“ Gruppen wie den Autonomen Nationalisten, die bei den Neonazis inzwischen den Ton angeben. Die etwa 110 Mitglieder verabreden sich vor allem im Internet – Nazi-Sprech: „Weltnetz“ – zu gemeinsamen Aktionen. Sie sind konspirativ und flexibel, bilden auf Demonstrationen den Schwarzen Block, schmieren Parolen, hetzen auf ihren Webseiten gegen Gegner, die sie auch ganz real bedrohen oder zusammenschlagen. „Anti-Antifa“ nennen sie das. Partei und Prügelkommando sind miteinander verflochten: Einflussreiche Mitglieder der Autonomen gehören auch dem Landesvorstand an. Die NPD sei auf die Autonomen angewiesen, konstatiert der Verfassungsschutzbericht.
Die Autonomen Nationalisten ähneln nicht nur in Auftreten und Struktur der autonomen Linken, sie besetzen zum Teil auch die gleichen Themen. So üben sie sich in Systemkritik und propagieren einen „Antikapitalismus von rechts“. Gleichzeitig dringen sie in traditionell alternative Stadtteile vor, wo sie zusammen mit der NPD offensiv Wahlkampf betreiben und Kundgebungen veranstalten. Dass sie damit provozieren, gehört zum Kalkül: Die NPD will wahrgenommen werden, der Ruch des Outlaws gilt in der rechten Logik als Auszeichnung.
Dass es im Juni zum heftigsten Schlagabtausch seit Jahren kommen konnte, liegt aber nicht nur an der Wahlkampftaktik der NPD, sondern auch an der Situation der linken Szene. Linke Gewalt steht seit Jahren im Fokus der Behörden, brennende Autos schaffen es regelmäßig in die „Tagesschau“, die Polizei lässt 130 Brandwachen durch die Berliner Nacht streifen, während über der Stadt ein Hubschrauber kreist. Anschläge auf Paketstationen, eine Polizeiwache und die S-Bahn haben die Diskussionen innerhalb der Szene angefacht, wie sinnvoll exzessive Gewalt überhaupt ist. Überwiegend wird diese Form der Gewalt abgelehnt, zumal sich auch autonome Linke zumindest zeitweise demokratischen Parteien und Initiativen angenähert haben, um rechte Aufmärsche zu verhindern. Und trotzdem brannten in der ersten Jahreshälfte mehr Autos als im gesamten Vorjahr. Etwa die Hälfte sei politisch motiviert, sagt die Polizei. Liegen linke und rechte Gewalttäter also doch auf Augenhöhe, wie dies Konservative und auch Innensenator Körting sagen?
„Nein“, sagt Udo Wolf. „Rechtsextreme Gewalt hat eine ganz andere Qualität. Die nehmen bei ihren Aktionen auch den Tod anderer Menschen in Kauf.“ Wolf ist Fraktionschef der Linken im Abgeordnetenhaus, seine Partei und die SPD regieren Berlin. Die Linke gehört zu den bevorzugten Zielen von Nazis, im April und Mai gingen die Fensterscheiben zweier Parteibüros zu Bruch, Ende Juni bewarfen Unbekannte ein Neuköllner Büro mit Eiern und Farbbeuteln, Namen linker Politiker landen immer wieder auf „Schwarzen Listen“ brauner Seiten im Internet. Die Linke ist in einer schwierigen Lage, da sie als Regierungspartei weniger deutlich auf rechte Gewalt reagieren kann, als es ihrem antifaschistischen Selbstverständnis entspricht. Es ist ein schmaler Grat. „Ich kann nachvollziehen, dass sich Linke aktiv gegen Rechtsextreme wehren“, mäandert Wolf, „ich finde es aber nicht gut.“

Es geht auch friedlich

Eine Parteifahne und drei Anhänger, mehr ist von der Linkspartei auf der ersten Demonstration nach den Brandanschlägen Ende Juni nicht zu sehen. Je nach Angaben von Polizei und Veranstalter sind 500 bis 2.500 Menschen zum Kreuzberger Heinrichplatz gekommen. Ein Redner kritisiert die Linkspartei für ihr „staatstragendes Verhalten“, die Partei könne schließlich kaum ein Problem damit haben, „dass einige rechte Politiker mit beherzten Antifaschisten kollidiert sind.“
Ohne Zwischenfälle führt der Demonstrationszug zum Tommy-Weisbecker-Haus, dicht an der Hauswand stehen noch immer die zwei Autos, die in der vorletzten Nacht brannten, leicht hätten die Flammen auf das Gebäude übergreifen können. Die Demo endet hier, die letzten Reden stoßen auf wenig Aufmerksamkeit, sorgfältig legen einige Teilnehmer ihre Transparente zusammen, ein Polizist filmt sie dabei. „War alles schon schlimmer“, raunzt ein älterer Mann, er hat die Zeit der Hausbesetzer und Steinewerfer miterlebt, auch die Maikrawalle hätten Kreuzberg schon schlimmer verwüstet als in den vergangenen Jahren.
Dass ziviler Ungehorsam seine Ziele erreicht, haben etwa 200 Menschen am letzten Junitag im Rathaus Kreuzberg bewiesen. Die „Bürgerbewegung Pro Berlin“ hatte sich gegen den Widerstand des Bezirksbürgermeisters in einen Veranstaltungsraum des Rathauses geklagt. Die Rechtspopulisten wollten dort ihr Wahlprogramm vorstellen, das von einer pathologischen Islam-Paranoia geprägt ist und Ängste vor islamistischem Terror schürt. Doch trotz des Aufgebotes von etwa 500 Polizisten blockierten die Teilnehmer einer Gegenveranstaltung die Zugänge zum Rathaus und  Veranstaltungsraum. Die Polizei räumte zwar den Eingang des Rathauses, ging aber nicht gegen die Sitzblockaden im Gebäude selbst vor. Die Anhänger von Pro Berlin zogen schließlich ab, der Veranstaltungssaal blieb leer. Bilanz des zivilen Ungehorsams: ein Sieg und keine Verletzten.