In der Schwebe

Das lange Warten eines Asylbewebers auf einen Bescheid

In Deutschland warten über 200.000 Asylbewerber auf den Ausgang ihres Verfahrens. Sie können
jederzeit abgeschoben werden. Wie gehen sie mit dieser Ungewissheit um? Der Pakistaner Samee Ullah hat seinen eigenen Weg gefunden: Fuß fassen, um jeden Preis
Text und Fotos: Sascha Lübbe

Samees Kritik kommt zaghaft. Eigentlich, sagt er, habe er sich seinen Tagesablauf in Deutschland anders vorgestellt: morgens zur Arbeit fahren, abends Freunde in einer Bar treffen, danach heim zur Frau. Für ihn ein typisch deutsches Leben. Doch die Realität sieht ­anders aus: Es ist sieben Uhr morgens, Samee kommt gerade aus seinem Flüchtlingsheim, zieht noch einmal an seiner Zigarette, bevor er im U-Bahnhof verschwindet. Er ist auf dem Weg zum ersten seiner unzähligen Termine, die ihn an diesem Tag kreuz und quer durch die Stadt führen. Seine Tage in Berlin beginnen früh und enden spät. Und jeder könnte der letzte sein.

Samee wartet seit zwei Jahren auf seinen Asylbescheid. Er fragt sich: „Wenn es keinen Ort für dich gibt, was ist dann der Sinn des Lebens?“ Foto: Sascha Lübbe
Samee wartet seit zwei Jahren auf seinen Asylbescheid. Er fragt sich: „Wenn es keinen Ort für dich gibt, was ist dann der Sinn des Lebens?“ Foto: Sascha Lübbe

Der 32-jährige Pakistaner ist ein Flüchtling, lebt seit zwei Jahren in Berlin. Er hat sich – ganz nach Vorschrift – als Asylbewerber registriert, ist in die Erstaufnahmeeinrichtung in der Motardstraße gezogen, lebt inzwischen in einer Sammelunterkunft in Reinickendorf. Er hat alles richtig gemacht. Das Problem liegt woanders, im System.

Asylanträge in Deutschland bearbeitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 800.000 Anträge erwartet man dort in diesem Jahr. Bearbeitet werden sie von 3.000 Mitarbeitern, im Laufe des Jahres sollen weitere 1.000 dazukommen. Trotz der Aufstockung gibt es einen gewaltigen Aktenstau: 237.877 unbearbeitete Anträge zählte das Amt Ende Juni. Das sind 237.877 Menschen, die nicht wissen, wie es weitergeht. Menschen wie Samee.

Dessen Zukunft in Deutschland ist auch nach zwei Jahren noch ungewiss. Eigentlich beträgt die ­durchschnittliche Bearbeitungszeit eines Asylantrags 5,4 Monate, bei Pakistanern ist es ein Jahr mehr. ­Samee aber wurde bisher nicht einmal zur Anhörung geladen. Zwei Mal hat er beim Amt nachgehakt, zwei Mal hat man ihm gesagt, er solle sich gedulden. Inzwischen hat er zumindest eine Arbeitserlaubnis, die IHK hat seine pakistanischen Arbeitszeugnisse anerkannt. Seitdem versucht er jeden Tag aufs Neue, im deutschen Alltag Fuß zu fassen. Damit er etwas vorweisen kann, wenn sein Fall an der Reihe ist.

Von Termin zu Termin

Seine erste Station an diesem Montagmorgen ist ein ­verglastes Büro in einem Hinterhof in der Friedrichstraße, die Proventus Energie Academy. Eine Weiterbildungseinrichtung für den Einstieg in die Windenergie­branche. An diesem Tag steht Projektmanagement auf dem Programm. Der Dozent erklärt die Finanzierungsmöglichkeiten eines Windparks, Samee nickt aufmerksam, macht sich Notizen. Er sei „sehr interessiert“, wird der Dozent später über ihn sagen.

Samee ist mittelgroß und kräftig gebaut, glatt ­rasiert und akkurat frisiert. Seine Stimme ist ruhig und freundlich. Er spricht meist Englisch, mitunter mischen sich deutsche Vokabeln wie „Erlaubnis“, „Prüfung“ und ­„Bescheinigung“ in seinen Redefluss, Spuren seines Alltags hier.

Die Kurse fallen ihm leicht. In Islamabad arbeitete er als Triebwerksmechaniker für die Pakistanische Luftwaffe, reparierte Kampfjets. „Propeller sind Propeller“, sagt er. „Da muss man nicht viel umdenken.“ Die Weiter­bildung macht er, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Sie ist sein Plan B. Denn eigentlich will er in seinen alten Beruf zurück.

Es sind nicht Samees ersten Schritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Er arbeitete als Putzkraft in einem Asylbewerberheim. Machte Praktika als Altenpfleger, als Set-Designer am Theater, als Monteur. Seine ­Arbeitgeber waren mit ihm zufrieden, die Zeugnisse sind ­positiv, nur übernommen wurde er nicht. Teils, weil ihm ­Papiere fehlten. Teils, weil niemand weiß, wie lange er in Deutschland bleiben kann. Auch deswegen der ­Versuch, überall Fuß zu fassen. Auch deswegen der eng getaktete Tagesablauf. Um jede Chance zu nutzen. Als einer der Kursteilnehmer nach dem Unterricht noch eine Präsen­tation mit ihm besprechen will, winkt ­Samee ab. Er muss weiter, zum nächsten Termin.

Ein angesehener Mann in Pakistan

Es ist 14 Uhr, beim Radiosender multicult.fm erwartet man ihn zum Interview. Samee ist Mitbegründer des ­Refugee Club Impulse, eines Theaterprojekts von Flüchtlingen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Maya sitzt er im Studio des Senders in der Kreuzberger Marheinekehalle, und beantwortet die Fragen der Moderatorin. Wie es zur Gründung des Clubs kam, welche Rolle Kunst für Asylbewerber spielt, wie sich das anfühlt, als Flüchtling in Deutschland. Samee antwortet souverän, freundlich. Es ist nicht das erste Interview, das er gibt. Und der Refugee Club nicht sein einziges Projekt. Er ist Mitglied von „My right is your right“, einem Zusammenschluss Berliner Kulturschaffender und Aktivisten, im „Yo!22“, einem Jugendladen in Neukölln, organisiert er regelmäßig Veranstaltungen.

Sein Traum sei es, sagt er, mit seinem Job Geld zu verdienen und sich nebenbei weiter sozial und künstlerisch zu engagieren. Auch in die Politik möchte er. Er war schon in seiner Heimat Pakistan aktiv. Als Mitglied einer revolutionären Partei.

Er wundert sich,
warum Deutsche nur
acht Stunden am Tag
arbeiten. »Für jemanden aus Pakistan, der zehn
Arbeitsstunden gewohnt ist, ist das seltsam«

Wenn es um seine Vergangenheit geht, wird Samee nachdenklich. Alles begann, als sein Vater krank wurde. Um sich um ihn zu kümmern, kündigte Samee den Job bei der Luftwaffe, zog zurück zu seiner Familie, ­machte sich vor Ort als Bauunternehmer selbstständig. Mit großem Erfolg, wie er sagt. Er habe recht schnell sehr viel verdient, war ein angesehener Mann. Doch dann, innerhalb weniger Monate, geriet sein Leben aus der Bahn: Sein Vater starb, die Mafia besetzte sein Grundstück. Samee zog vor Gericht, bekam Recht. Doch das, sagt er, zählt in einem politisch-korrupten Staat wie Pakistan wenig. Samees Leben wurde bedroht, die Menschen im Ort wendeten sich von ihm ab. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Lösung mehr gesehen“, sagt er.  Er floh.

Das Schlimmste am Neuanfang in Deutschland? „In meiner Heimat hatte ich einen Namen. Hier war ich ein Niemand und musste mit 30 komplett von vorn anfangen.“ In Pakistan war er sein eigener Chef, fuhr seinen eigenen Wagen. Hier ist er immer von anderen abhängig. An diesem Nachmittag muss er mit der U-Bahn zurück ins Heim fahren, um seine Post abzuholen. Wenn er morgens das Heim verlässt, ist die Post­stelle noch geschlossen. Wenn er abends zurückkommt, ist sie schon wieder zu. Sein Tagesablauf passt nicht ins Bild des tatenlosen  Asylbewerbers.

Drei Stunden ist Samee täglich in der U-Bahn unterwegs. Er ist ­vielbeschäftigt, macht Fortbildungskurse und besucht die Fahrschule Foto: Sascha Lübbe
Drei Stunden ist Samee täglich in der U-Bahn unterwegs. Er ist ­vielbeschäftigt, macht Fortbildungskurse und besucht die Fahrschule Foto: Sascha Lübbe

Das gilt auch für seinen nächsten Termin: Theoriestunden in einer Fahrschule im Wedding. Das kleine Büro in der Osloer Straße ist voll mit jungen Menschen, die meisten mit arabischem oder türkischem Hintergrund, ein paar Afrikaner sind auch dabei. Samee folgt den Ausführungen des Fahrlehrers, nebenbei checkt er eingehende E-Mails auf seinem Handy.

Die Stunden waren ein Sonderangebot, 19 Euro für den theoretischen Teil. Samee will ihn absolvieren und dann so lange arbeiten, bis er sich den praktischen Teil leisten kann. Die Prüfung sollte einfach sein, sagt er, er könne ja fahren. Sein pakistanischer Führerschein war nur abgelaufen. „Eigentlich braucht man in ­Berlin gar kein Auto“, erklärt er. „Aber wenn ich hier keinen Job bekomme, sondern auf dem Land, muss ich mobil sein.“ Es ist wieder eine Alternative, wieder ein Plan B. Ein weiterer Versuch, jede Unwägbarkeit kategorisch auszuschließen.

Wenn Samee über seine neue Heimat Deutschland spricht, lobt er sie in den höchsten Tönen. Als „friedliebend, ehrlich und gebildet“, bezeichnet er die Deutschen. Spricht von „Dankbarkeit“, „Verantwortung“ und von „Pflichten“, die er als neuer Staatsbürger zu erfüllen habe. Letztlich fühle er sich den Deutschen näher als manchen Asylbewerbern, die neu ins Land kommen.

Rassismus existiert für ihn nur auf politischer und struktureller Ebene, nicht auf der persönlichen. Er habe keine Form von rassistischer Gewalt erlebt, Übergriffe auf Asylbewerberheime hält er für Taten extremer Randgruppen, Pegida für eine Versammlung alter, verbitterter Menschen. „Die jungen Menschen in Deutschland sind gebildet und offen“, sagt er. „Bei denen gibt es ­keinen Rassismus.“ Sein positives Bild liegt sicher auch an seinem Umgang: Sein Freundeskreis besteht vor ­allem aus linken Aktivisten. Samee hält die Mehrheit der Deutschen für Vegetarier.

Einziger Kritikpunkt: Er wundere sich, warum Deutsche nach einem interessanten Gespräch nicht nach der Telefonnummer fragen. Und warum sie nur acht Stunden am Tag arbeiten. „Für jemanden aus Pakistan, der zehn Arbeitsstunden gewohnt ist, ist das seltsam“, sagt er und wechselt die Bahn. Er ist auf dem Weg zum nächsten Termin.

Ausflüge zum Tegeler See

Drei Stunden verbringt er täglich in der U-Bahn. Er kennt alle Verbindungen auswendig, weiß, wie ­lange er von einem Ort zum anderen braucht. Auch die ­vollen Wagen der Rush-Hour machen ihm nichts aus, Menschenmassen kennt er aus der Heimat. Drei Freunde trifft er an diesem Tag in der U-Bahn, mit mehreren Passagieren kommt er ins Gespräch. Die Waggons sind wie ein zweites Zuhause.

Doch auf Dauer wird dieser Lebensstil zu viel. ­Samees vorletzter Termin führt ihn zu einem Arzt in Wittenau, er will seine Röntgenbilder abholen. Seit ­Wochen klagt er über Schmerzen in den Füßen. Sein Körper macht nicht mehr mit. Wenn es gut läuft, schläft er sechs Stunden, meistens sind es weniger. Tagsüber isst er nur Kleinigkeiten, ein richtiges Mittagessen würde ihn ermüden. Sport? Keine Zeit. Religion? Er sei zwar Moslem, schaffe es aber nicht in die Moschee. Die ­einzige Auszeit, die er sich gönnt, sind Ausflüge zum ­Tegeler See. Dort sitzt er manchmal und schaut aufs Wasser. Das beruhige ihn.

Mit den Röntgenbildern unterm Arm macht er sich auf zu seiner letzten Verabredung an diesem Abend. Im Café Kotti am Kottbusser Tor trifft er seinen Freund Zia aus Pakistan. Der studierte Psychologe lebt seit acht ­Jahren in der Stadt, macht gerade seinen Doktor in ­Linguistik. Er hilft Samee zwei Mal in der Woche bei den Hausaufgaben. An diesem Abend besprechen die beiden Samees Präsentation für den nächsten Tag. Als sie fertig sind, um 22 Uhr, atmet Samee zum ersten Mal durch. Feierabend.

Als er sein Heim in Reinickendorf erreicht, ist es Mitternacht. Sami kocht sich eine Kleinigkeit in der ­Gemeinschaftsküche, isst auf seinem Zimmer. Er hat kaum Kontakt zu den 350 Bewohnern des Heims. Sein zehn Quadratmeter großes Zimmer ist karg, es gibt keinen Fernseher, kein WLAN. Poster an den Wänden seien verboten, sagt er. Im gesamten Haus gibt es keinen Gäste­bereich, keinen Gemeinschaftsraum. Es ist das einzige Mal, dass er sich beschwert; das einzige Mal, dass das Bild seiner neuen Heimat getrübt ist. „Alles in Deutschland hat ein gewisses Niveau“, sagt er, „warum gilt das nicht auch für Flüchtlingsheime?“

Der Heimbetreiber, die PeWoBe GmbH, weist die Vorwürfe zurück. Poster an den Wänden seien erlaubt, die Ausgestaltung von Gemeinschaftsräumen sei ­Sache des Lageso, die Anschaffung eines  WLAN-Netzes ­werde derzeit diskutiert. Die Firma von Geschäftsführer ­Helmuth Penz macht häufig Negativschlagzeilen. Immer wieder ist von fehlerhaften Abrechnungen und verletzten Standards die Rede. Kritisiert wird auch die Nähe zum Lageso, das die Aufträge vergibt: Die ­PeWoBe betreibt derzeit über 20 Prozent aller Berliner Flüchtlingsheime.

Doch die Zustände im Heim sind nicht der ­einzige Grund, warum sich Samee hier so selten aufhält. Er müsse ständig unterwegs sein, brauche ausgefüllte Tage. „Sie halten mich davon ab, zu viel zu denken“, sagt er. „Wenn es keinen Ort für dich gibt, und niemanden, der dich braucht, was ist dann der Sinn des Lebens?“, fragt er und schluckt. Nur um sich im nächsten Moment ­wieder zu fangen. Er sei ein positiv denkender Mensch; einer, der vorausschaut, nicht zurück. Dann wendet er sich wieder seiner Präsentation zu. Vielleicht ist die Weiterbildung ja der entscheidende Schritt. Vielleicht gibt sie den Ausschlag dafür, dass er in Deutschland bleiben darf. Wenn sein Fall dann, eines Tages, an der Reihe ist.