»Das Glück liegt in der Gegenwart«

Interview mit dem Zeitforscher Olaf Georg Klein

Zeitforscher Olaf Georg Klein über Versäumnisängste und den Irrtum, dass Zeit sich managen lässt Interview: Kirsten Niemann, Illustrationen: Karo Rigaud

Herr Klein, wie haben Sie für sich das ­Thema Zeit entdeckt? In den letzten 25 Jahren ist das Leben immer hektischer geworden. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Zeit scheinbar knapp ist. Auch in meinem Leben schien die Zeit schneller zu vergehen. Ich fragte mich: Wie kommt das? Außerdem kamen immer mehr Menschen zu mir ins Coaching, die Probleme mit ihrer Zeit hatten. Wenn ich dann genauer nachfragte, bemerkte ich jedoch, dass jeder ein anderes Problem hat. Es geht um individuelle Werte, um Ängste und um Sinnfragen: Was ist mir wirklich wichtig in diesem Leben? Wofür will ich meine Zeit nutzen? Was möchte ich nicht versäumen? Wer bin ich?

Wie definieren Sie Zeit? Eigentlich gibt es „die Zeit“ gar nicht. Sie ist eine Erfindung des Menschen. Es gibt nur Bewegung und Veränderung. Die Erde dreht sich um sich selbst – und wir teilen diese Bewegung in 24 Teile und haben damit die Stunde erfunden. Zeitkonzepte sind in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich. In unserer Kultur wird oft „Zeit ist Geld“ gesagt. Wenn das so wäre, dann müssten ja eigentlich Kinder, Arbeitslose und Rentner enorm reich sein. Dagegen würde ich eher sagen: Zeit ist Glück, Zeit ist Liebe, Zeit ist Erfüllung. Allerdings wird der scheinbare Mangel an Zeit, unter dem viele Menschen leiden, heute von vielen auch als ein Mangel an Glück wahrgenommen.

Aber was ist denn nun eigentlich das ­Problem mit der Zeit, dass sie uns so unglücklich macht? Wir glauben zum Beispiel, wir könnten die Zeit managen, wir seien Herrscher über die Zeit. Dann wieder fürchten wir, die Zeit mache etwas mit uns, wir seien ihr Opfer. Beide Vorstellungen widersprechen sich und tun so, als ob die Zeit etwas sei, das außerhalb von uns existiert. Wir können aber „mit“ der Zeit gar nichts tun. Wir können nur selbst etwas „in“ der Zeit tun. Entweder schnell oder achtsam, entweder automatisiert oder bewusst, entweder mit Muße oder mit Hetze. Oftmals wollen wir paradoxer­weise sogar zwei vollkommen entgegengesetzte Dinge zugleich.

Zum Beispiel? Wir verlangen zum Beispiel von unserem Körper, alle möglichen zeitintensiven Aufgaben immer schneller zu erledigen. Schneller zu essen, zu arbeiten, zu lesen, zu schlafen … Und gleichzeitig wünschen wir, dass unser Körper nicht altert, sondern so bleibt, wie er ist. Rasen und Stillstand zugleich – beide extremen Vorstellungen sind mit unserem Körper aber nicht zu haben. Kein Wunder also, dass wir daran scheitern und eher krank werden, als uns wohlzufühlen. Da hilft dann auch kein Wellness-Programm. Solange Wellness nur etwas Äußeres ist und nicht auch zu einem Innehalten und Besinnen führt.

Welches Zeitverständnis wäre denn eine brauchbare Alternative? Es gibt meiner Meinung nach weder richtige noch falsche Zeitkonzepte. Aber uns sollte klar sein, dass unsere Vorstellungen über die Zeit Konsequenzen für unser Leben haben. Wir sagen zum Beispiel oft: Die Zeit vergeht. Aber macht sie das wirklich? Das ist jedenfalls sehr mangel- und verlust­orientiert. Wir könnten genauso gut sagen und denken und fühlen: Die Zeit entsteht. Nämlich immer wieder neu, solange wir leben. Allein dieser kleine Perspektivwechsel würde uns ganz anders mit der Zeit – also mit uns selbst – umgehen lassen. Oder wir könnten zum Beispiel auch der Ereigniszeit mehr Raum und Bedeutung beimessen als der Uhrzeit.

Was soll das heißen? Wenn ich sage, wir treffen uns auf eine Tasse Kaffee, geht damit ein anderes Zeitgefühl einher, als wenn ich sagen würde: Wir treffen uns für 15 Minuten. Bei der ersten Aussage geben wir der Ereigniszeit Raum. Wir könnten das Kaffeetrinken nach zehn Minuten oder nach zwei Stunden beenden. Je nachdem, was sich ereignet, wie interessant das Gespräch ist oder was für Themen aufkommen.

Haben wir denn nun viel oder zu wenig Zeit? Das kommt darauf an, wie wir in der Zeit leben, wie wir uns selbst in der Zeit wahrnehmen. Unser Zeitempfinden hängt von dem ab, was wir tun. Von Einstein stammt der schöne Spruch über die Relativität des Zeitempfindens: Zehn Minuten auf einer heißen Herdplatte sind relativ lang, zehn Minuten in den Armen eines geliebten Menschen relativ kurz. Interessanterweise sind aber die Konsequenzen von zu viel oder zu wenig Zeit oft gleichermaßen frustrierend. Und sie führen obendrein zu ähnlichen Symptomen. Der gestresste Manager, der von einem Termin zum anderen hetzt und unter der Eilkrankheit leidet, und ein Arbeits­loser, der mehr Zeit hat, als ihm lieb ist, aber nichts für ihn Sinnvolles damit anzufangen weiß, können am Ende beide an Teilnahmslosigkeit, Frustration und Sinnlosigkeitsgefühlen leiden. Nur wird das einmal Depression und einmal, etwas eleganter, Burn-out genannt.

Dennoch versuchen wir immer wieder, ­Zeit zu sparen. Nach Ihrem Verständnis ist das jedoch nicht möglich. Wir können Zeit nicht sparen. Geld kann man auf die Bank bringen und bei Bedarf abheben, Zeit nicht. Die Zeit ist kein Ding, das man in der Hand hält. Sie ist nichts, was außerhalb von uns existiert. Der argentinische Schriftsteller Jorge ­Luis Borges sagte das mal so treffend: „Zeit ist ein Tiger, der mich verschlingt, aber ich bin der Tiger.“

Sie glauben also nicht an den Nutzen ­von Zeit­managementmodellen? Die Frage ist, ob es uns wirklich glücklich macht, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu tun. Was in der Produktion als Effektivität Sinn ergibt, sollte nicht auf das ganze Leben übertragen werden: Schneller vertrauen? Schneller erziehen? Schneller küssen? Das gibt unserem Leben offensichtlich nicht mehr Qualität.

Warum sind wir so, wie wir sind, im Umgang mit unserem Terminkalender? Terminkalender sind Ausdruck unseres linearen Zeitverständnisses, das aus unserer christlich geprägten Kultur stammt. Allerdings ist die Vorstellung des ewigen Lebens, die ursprünglich damit einherging, heute eher auf circa 80 Jahre zusammengeschrumpft. Das heißt, wir müssen alles, was wir tun und erreichen wollen, in diesen Zeitraum packen. Einerseits wünschen wir uns also mehr Ruhe und Muße, andererseits packen wir unseren Terminkalender immer randvoll, aus Angst, etwas zu verpassen. Ganz andere Kon­sequenzen gehen mit einem zyklischen Zeitverständnis einher, in dem es einen großen Kreislauf gibt und alles wieder zu seinem Anfang zurückkehrt. Asiatische Kulturen leben eher nach dieser Vorstellung. Sie leben von daher stärker im Augenblick und sind nicht so sehr auf ein fernes Morgen fixiert. Der Weg ist da eher das Ziel.

Was ließe sich denn konkret gegen diese Versäumnis­angst tun? Das wirkliche Heilmittel gegen die Versäumnisangst ist, genau das konzentriert und lustvoll zu tun, was wir gerade jetzt tun, statt darüber zu grübeln, ob es nicht besser gewesen wäre, etwas anderes zu tun. Ich sage meinen Klienten immer: Sagen Sie sich im Zweifel: „Ich bin zur rechten Zeit am rechten Ort und tue mit Freude genau das Richtige.“ Und dann genießen Sie das, was Sie tun.

Wann rast Zeit und wann vergeht sie langsam? Wenn wir verschiedene Dinge gleichzeitig und unkonzentriert tun, haben wir das Gefühl, die Zeit sei verflogen. Die Zeit geht langsamer, wenn wir konzentriert sind und den gegenwärtigen Moment intensiv wahrnehmen. Wenn ich nicht auf der Durchreise bin, sondern angekommen, bei mir und im Hier und Jetzt, dann gibt mir das ein Gefühl von Entspannung. Das trifft auch auf ganz kleine Dinge im Alltag zu – etwa, wenn ich mich auf den Weg zu einer Verabredung mache. Ich kann die U-Bahnfahrt zu der Verabredung als lästiges Unterwegs wahrnehmen oder als die gerade vorhandene Situation genießen.

Olaf Klein
Olaf Georg Klein, gelernter Schiffsbauer, studierter Theologe, Philosoph und Psychologe, ist Autor des Buches „Zeit als Lebenskunst“ und Coach für Führungskräfte und Einzelpersonen, mit Praxis in Berlin. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und Mitglied im Verein zur Verzögerung der Zeit.

Was ist so schwer daran, präsent zu sein und in der Gegenwart zu leben? Die Gegenwart wird praktisch ständig entwertet zugunsten eines vagen Versprechens für die Zukunft. Das hat etwas mit unserer säkularisierten Paradiesvorstellung zu tun. Das Glück liegt demnach immer in der Zukunft: Wenn ich dieses oder jenes erreiche, eines Tages, dann werde ich irgendwann glücklich sein. Wir hoffen also auf mehr Geld, mehr Erfolg – oder auch mehr Zeit in der Zukunft. Und dabei schreiben wir die gehetzte Gegenwart immer weiter fort. In Wahrheit liegt das Glück aber in diesem Moment – oder nirgendwo. Wenn etwa ein Klient zu mir kommt und ­sagt, er sei unglücklich, er wolle dies und jenes tun und hoffe, in einem neuen Job werde alles besser, dann empfehle ich ihm zunächst, nach dem zu schauen, was ihm in der Gegenwart gefällt. Wenn er das Gute in diesem Moment nicht erkennen kann, dann wird er es auch in der Zukunft nicht erkennen können. Man kann nicht von einem unglücklichen Zustand in einen glücklichen gehen, ohne seine Wahrnehmungsmuster und seine Zukunftsfixierung zu wandeln. Dennoch hält sich dieses zukunfts­fixierte Denken hartnäckig in dieser Gesellschaft. Aber den Genuss in die Zukunft zu verschieben, ist wenig ­ratsam.

Wie gelangen Sie persönlich zu einem ­achtsamen Umgang mit der Zeit? Zum einen schreibe ich Tagebuch. Schreiben entschleunigt. Es hilft, die wesentlichen von den unwesentlichen Dingen zu unterscheiden und Prioritäten zu setzen. Ich versuche, auch scheinbare Routinearbeiten achtsam zu tun.

Was hat es mit dem Verein zur Verzögerung der Zeit auf sich? Der Verein mit Sitz in Österreich wurde von einem Professor gegründet und hat zum Ziel, zu einem reflektierten, aber auch spielerischen Umgang mit Zeit zurückzufinden. Der Name ist natürlich ironisch gemeint. Denn die Zeit kann man ja nicht verzögern. Aber auf einem Aktionstag könnten Sie zum Beispiel bestimmte Dienstleistungen einkaufen, für die Sie selber keine Zeit haben. Jemand schläft für Sie aus: 25 Euro. Einen Spaziergang macht jemand schon für 15 Euro für Sie, und ein paar freundliche Worte zum Nachbarn sind noch preiswerter. Aber und Mußestunden sind natürlich außergewöhnlicher Luxus und daher auch richtig teuer.

www.personal-coaching-berlin.de
www.zeitpolitik.de
www.zeitverein.com