Interview

Interview mit Klaus Wowereit

»Diese Stadt hat einen eigenen Rhythmus, den muss man mitleben«
Amtsinhaber Klaus Wowereit über die Schulden Berlins, Gentrifizierung und seine Zeit als Klassensprecher

Herr Wowereit, Sie sind 57 Jahre alt. Sie waren immer in Berlin. Hatten Sie nie das Bedürfnis, einmal woanders zu leben?
Rückblickend wäre es sicher schön gewesen, wenn ich während des Studiums oder als Schüler auch mal im Ausland gelebt hätte: in Australien etwa oder in Kanada. Das hat sich nicht ergeben. Aber dass ich auf Dauer irgendwo außerhalb Berlins hätte leben wollen? Nein, das nie.

Warum Australien oder Kanada?
Weil ich diese Länder spannend finde. Weil sie sehr weit weg sind und die Menschen dort eine offene Art haben.

Wo gehen Sie hin, wenn Sie genug haben von der Großstadt? Wenn Sie entspannen müssen?
Im Urlaub bin ich sehr gerne auf Inseln. Ob Mallorca oder Griechenland, das ist im Grunde nicht so wichtig. Aber ich muss Meerblick haben und möglichst auch Berge.

Sie sind seit zehn Jahren Regierender Bürgermeister. Diese Stadt macht immer noch Schulden, trotz Länderfinanzausgleich und Solidarpakt. Warum ist Berlin nicht alleine überlebensfähig?
Ohne den Mauerbau wäre das alles anders. Selbstverständlich hätten die großen Banken noch ihren Sitz in Berlin, selbstverständlich wäre die Siemens-Zentrale nicht von Berlin nach München gezogen, auch die Chefetagen der Medien wären alle hier – und so weiter und so fort. Bei einer normalen Entwicklung würde Berlin den Rest der Republik mitfinanzieren. Aber Berlin bekommt heute aus dem Finanzausgleich nicht mehr, als jedem andern Land bei gleicher Lage zusteht, insofern …

… aber Berlin bekommt mit Abstand das meiste Geld aller Bundesländer.
Berlin hat auch den größten Veränderungsprozess seit dem Bau der Mauer zu bewältigen. Wir arbeiten mit einigem Erfolg daran, die Wirtschaftsschwäche zu überwinden. Berlin hat heute keinen Sonderstatus mehr.

Wie kann es sein, dass es in dieser Stadt Ganztagsschulen ohne Mensa gibt?
Das sollte nicht sein. Und wenn es der Fall ist, hat der Bezirk die Aufgabe, die Investition anzumelden und vorzunehmen. Das gehört zum Ganztagskonzept dazu. Wir haben ja auch schon erfolgreich begonnen, für Mittagstisch zu sorgen, auch an Gymnasien. Cafeterias und Mensen werden gebaut.

Warum konnte Ihr ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin sparen, sein Nachfolger Ulrich Nußbaum nicht?
Das ist falsch. Herr Nußbaum hat den Konsolidierungskurs mit meiner Rückendeckung weitergeführt, und das muss auch in der nächsten Legislaturperiode weitergehen. Das hat schon heute dazu geführt, dass der Investitionsspielraum  wächst, vor allem zum Nutzen der Bildung.

Nur als Beispiel: In dieser Stadt wird jede Opernkarte mit rund 180 Euro subventioniert. Ist das noch aufrechtzuhalten?
Besser wäre es natürlich, die Opernhäuser könnten von sich aus höhere Einnahmen erzielen. Wir haben uns entschieden, die drei historischen Opernhäuser zu erhalten. Ich glaube, das ist auch ein harter Wirtschaftsfaktor. Das ist neben der kulturpolitischen Aufgabe wichtig für die Ansiedlung von Unternehmen.

Warum schaffen Sie es nicht, mehr Firmen nach Berlin zu holen?
Berlin hat sich zum Investitionsstandort Nummer eins in Deutschland entwickelt. In den vergangenen fünf Jahren sind 118.000 sozialversicherungspflichtige Jobs in Berlin neu entstanden. Das ist nachweisbar. Klar ist aber auch: Wir dürfen uns nicht ausruhen.

Siemens hatte überlegt, die Sparte „Infrastruktur und Städte“ in Berlin anzusiedeln. Der Konzern entschied sich ein weiteres Mal für München.
Hier ging es zunächst nur um 50 Arbeitsplätze, aber dieser Akzent wäre gut für Berlin gewesen. Leider zeigt sich bei Investitionsentscheidungen manchmal immer noch, dass es ein Nachteil ist, wenn die Firmensitze nicht in Berlin sind.

Das wird sich in Zukunft auch nicht ändern.
Doch, ich glaube schon. Da wächst eine neue Generation heran, die zukünftigen Manager, die sagen: Der Standort Berlin ist so attraktiv, da wollen wir unbedingt hin.

Beim umstrittenen Investorenprojekt Mediaspree haben Sie die Entscheidung den Bezirksämtern überlassen. Müsste das Spreeufer nicht Chefsache sein?
Das ist laut Verfassung nun mal deren Zuständigkeit. Es kann nicht immer, wenn es Ärger gibt, heißen: interveniere, Senat! Klar ist: Es gibt ein berechtigtes Interesse, den Uferweg freizuhalten oder ihn überhaupt erst neu zu schaffen, wie auf der Kreuzberger Seite. Aber dieses ganze Areal muss entwickelt werden. Man kann nicht den Investoren, die sich darauf verlassen haben, dass der Bebauungsplan Gültigkeit hat, im Nachhinein schikanieren.

Beispiel Tempelhof: Der Filmpark Babelsberg wollte dorthin, jetzt findet dort zweimal im Jahr eine Modemesse statt. War da nicht mehr drin?
Der Umzug der Bread & Butter von Barcelona nach Berlin ist damals heftig kritisiert worden, aber er war ein genialer Schachzug, ein Durchbruch als Modestadt. Da hängen Tausende Arbeitsplätze dran. Und das alte Flughafengelände ist mittlerweile weit darüber hinaus für Veranstaltungen attraktiv.

Berlin wurde in den vergangenen zehn Jahren immer hipper und obwohl die Stadt kaum von der Wirtschaftskrise betroffen war, ist sie noch Spitzenreiter bei der Arbeitslosigkeit.
Berlin hat deutlich weniger Arbeitslose als früher. Diejenigen, die hier arbeitslos werden, haben eine gute Chance, innerhalb eines Jahres wieder einen neuen Job zu bekommen. Aber ich will das jetzt auch nicht schönreden. Leider ist der Anteil derjenigen, die dauerhaft  arbeitslos sind, immer noch relativ hoch. Viele neue Jobs werden auch besetzt durch Bewerberinnen und Bewerber aus anderen Teilen der Republik oder aus dem Ausland.

Wie kann man Langzeitarbeitslosen helfen?
Wir haben Arbeitsmarktförderinstrumente, die wir aktiv einsetzen. Es gibt Zuschüsse durch den öffentlichen Beschäftigungssektor, auch die 1-Euro-Jobs.

Würden sie den Spruch „Arm aber sexy” heute auch so sagen?
Ich wollte damals damit sagen: Bei aller ökonomischen Schwäche ist diese Stadt so sexy, dass sie tatsächlich attraktiv wird. Sie ist heute immer noch sexy, aber nicht mehr ganz so arm. Reich sind wir immer noch nicht.

Sie gelten als typischer Ku’damm-Bewohner.
Was ist ein typischer Ku’damm-Bewohner?

Paris-Bar und so. Besteht die Möglichkeit, dass Sie noch einmal umziehen?
Ich bin nicht einer, der jedes Jahr umzieht. Ich habe rund 50 Jahre meines Lebens in Lichtenrade gewohnt. Als wir etwas Neues gesucht haben, waren wir überhaupt nicht festgelegt. Ich habe mich auch in Prenzlauer Berg und in Mitte umgeschaut. Für mich war die Wohnung entscheidend, ich wollte eine schöne Wohnung in einem intakten Kiez. In Charlottenburg-Wilmersdorf fühle ich mich sehr wohl. Da leben Geringverdiener neben Gutverdienern. Da gibt es den Tante-Emma-Laden noch, den Schneider und den Friseur.

In anderen Kiezen, wie zum Beispiel in Neukölln, gibt es deutsche Eltern, die private Kitas gründen, weil ihre Kinder nachmittags nach Hause kommen und Türkisch sprechen. Haben Sie dafür Verständnis?
Das ist aber eher die seltene Ausnahme, das ist nicht das Problem. Es geht beim Thema Integration um die soziale Frage, um neue Aufstiegschancen. Und es geht eben nicht nur um Familien nicht-deutscher Herkunft, sondern um alle Familien, in denen Menschen in der dritten Generation arbeitslos sind. Wenn die einen mangels realer Chancen den Aufstiegswillen verlieren und die anderen wegziehen, weil sie ihre Kinder in sogenannten besseren Kiezen in die Schule schicken wollen, ist das die
schlechteste Lösung.

Und was ist eine bessere Lösung?
Eine soziale Mischung. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, dass man von sogenannter Gentrifizierung spricht, wenn gekippte Quartiere sich verbessern. Ich freue mich auch, wenn es wieder mehr Quartiere in dieser Stadt gibt, wo viele Menschen ihre Miete selbst bezahlen können. Das kann ich nicht als falsch empfinden. Das muss man positiv annehmen und nicht unter dem Stichwort Gentrifizierung verteufeln.

Aber verstehen Sie nicht die Angst vor Verdrängung, weil sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können?
Natürlich verstehe ich Ängste vor steigenden Mieten. Da müssen und wollen wir gegensteuern – vor allem durch eine engere Begrenzung des Mietanstiegs nach Sanierungen, in einigen Segmenten mit besonderem Bedarf auch durch mehr öffentlich finanzierte Wohnungen. Aber es gilt auf der anderen Seite auch: Wenn man an bestimmten Stellen eine bessere soziale Mischung haben will, muss es auch sanierte Wohnungen mit höheren Mieten geben. Wichtig ist nur, dass das nicht zu einer Monostruktur wird und dass Raum für Menschen mit kleinem Einkommen bleibt. Das kriegt man aber nicht hin, wenn man alles so lässt, wie es ist. Das wäre ja fatal. Wir wollen, dass Häuser, die stark sanierungsbedürftig sind, saniert werden. Wir haben keine Verhältnisse wie in New York und anderen Metropolen, wo ganze Quartiere abgerissen und Menschen zwangsumgesiedelt werden.

Der ehemalige Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, soll manchmal mit Baseballmütze inkognito durch seine Stadt gelaufen sein. Machen Sie das auch so?
Nein, erstens trage ich ungern so ein Basecap und meine Stimme wird sowieso erkannt. Zweitens will ich das auch gar nicht. Ich bewege mich frei und offen in Berlin.

Renate Künast wohnt im selben Bezirk wie Sie. Sie sind beide Juristen, fast gleich alt. Was können Sie, was Künast nicht kann?
Das haben wir auf unsere Wahlplakate geschrieben: Berlin verstehen. Diese Stadt hat einen eigenen Rhythmus, den muss man mitleben, den muss man erspüren können. Man muss nicht hier geboren sein, das geht auch in drei Monaten, wenn man die entsprechende Sensibilität dafür hat. Oder man kann 30 Jahre hier wohnen und es immer noch nicht verstehen.

Die Grünen wollen aus Berlin eine Klimahauptstadt machen, bislang steht in hier nur ein Windrad, in Buch. Ist Platz für mehr?
Mitten in der Stadt Windräder aufzustellen ist sicherlich nicht das Zukunftsprojekt. Ich schließe nicht aus, dass am einen oder anderen Ort noch ein Windrad hinzukommt, aber in einer Größenordnung, die nennenswert wäre, kann ich mir das nicht vorstellen. Ich glaube, das würde sogar bei der grünen Klientel erhebliche Widerstände hervorrufen. Wenn es um Klimaschutz geht, müssen andere Schwerpunkte gesetzt werden.

Wie sieht rot-rote Umweltpolitik aus?
Berlin steht im Städtevergleich sehr gut da, aber das muss noch besser werden. Wir sind in der energetischen Gebäudesanierung sehr gut vorangekommen, Wohnungsbaugesellschaften sanieren Tausende von Wohnungen. Wir arbeiten weiter am Verkehrskonzept, wir haben ein attraktives Nahverkehrsangebot, das die Alternative zum Auto sicherstellt. Wir bemühen uns, Vorreiter zu sein bei Elektromobilität und Car-Sharing. Wir wollen, dass Autofahrer aus Vernunftsgründen umsteigen, nicht weil sie gezwungen werden. Wir wollen sie nicht drangsalieren. Das ist ein Unterschied zu den Grünen in der Verkehrspolitik.

Die Grünen und die Linke wollen ein generelles Flugverbot von 22 beziehungsweise 23 Uhr bis sechs Uhr und lehnen die A100 ab. Am einfachsten wäre für Sie doch eine Koalition mit der CDU, oder?
Die Eierei der Grünen zum Thema Flughafen Berlin-Brandenburg Willy Brandt ist nicht mehr zu ertragen und schadet Berlin. Wir investieren dort nicht über drei Milliarden Euro, um einen Provinzflughafen zu bauen. Und die Position von Künast ändert sich fast täglich. Ich sage ganz eindeutig: Dies ist ein Flughafen, der 40.000 Arbeitsplätze schaffen wird. Er soll Wirtschaftskraft in die Stadt bringen und dazu brauchen wir Flexibilität. Die gibt es nur, wenn man auch in Randzeiten fliegen darf – wenn auch natürlich möglichst wenig. Sonst müsste man in London in Zukunft schon am späten Nachmittag losfliegen, um überhaupt noch nach Berlin zu kommen.

Also CDU?
Ich schließe eine Koalition mit der CDU ja nicht aus, aber ich sage auch ganz deutlich: Wie die CDU in Berlin aufgestellt ist, zeigt, dass sie aus dem Debakel des Bankenskandals nichts gelernt hat. Alle, die hinter dem Spitzenkandidaten Frank Henkel stehen, sind die Gleichen geblieben. Insofern kann ich mir eine Zusammenarbeit ganz, ganz schwer vorstellen.

In einem Interview haben Sie letztens gesagt: lieber Rot-Rot als Rot-Grün. Steht das noch?
Ich habe das nicht als programmatische Aussage gemeint.

So stand es vor ein paar Wochen im „Zeit-Magazin“.
Wir haben mit der Linkspartei zehn Jahre lang gut zusammengearbeitet, dazu stehen wir. Andererseits gibt es große inhaltliche Schnittmengen mit den Grünen. Beides ist programmatisch möglich.

Sie waren Berlins jüngster Stadtrat, Sie haben einen klassischen Aufstieg hingelegt, Sie sind seit zehn Jahren Regierender Bürgermeister. So eine Politikerkarriere, war das immer schon Ihr Wunsch?
Nee, aber Geschichte und Politik, das waren immer meine Hobbys, schon als Schüler. Als ich angefangen habe, als 18-Jähriger bei den Jungsozialisten, da habe ich nicht daran gedacht, hauptamtlich in der Politik zu sein.

Waren Sie der Typ Klassensprecher oder der Lümmel von der letzten Bank?
Der Lümmel von der letzten Bank war ich nicht. Ich war sehr aktiv in der  Schülervertretung und Klassensprecher. Wir hatten damals eine Schülerkonferenz, weil wir das sogenannte Buxtehuder-Modell für eine reformierte Oberstufe experimentell bei uns einführen wollten.

Klassensprecher, das hätten wir nicht gedacht. Vor ein paar Jahren wurden  Sie ausgelacht, weil Ihnen in einer Fernsehsendung nicht einfiel, wann der Zweite Weltkrieg begann.
Ach, das ist doch menschlich, dass man mal ins Grübeln kommt, wenn man spontan etwas sagen soll. Da war ich einen Moment verunsichert, und dann kam so etwas dabei raus.

Was wäre für Sie eine Alternative zur Politik gewesen?
Ich wäre entweder Richter, Rechtsanwalt oder Verwaltungsjurist geworden. Ich habe auch überlegt, Geschichte oder Politologie zu studieren, aber mich dagegen entschieden. Zu der Zeit hätte ich gleich einen Personenbeförderungsschein bei der Anmeldung zum Studium mitmachen können, weil die Berufsaussichten so schlecht waren.

Diese Situation hat sich kaum geändert. In Berlin werden immer noch viele Geisteswissenschaftler ausgebildet, die danach Taxi fahren.
Es werden aber auch in diesem Segment Stellen frei. Aber es stimmt: In manchen Bereichen der Wirtschaft ist der Stellenwert der Geisteswissenschaften immer noch nicht sehr hoch, da werden dann doch eher  Betriebswirte, Volkswirte, Juristen gewünscht.

Ist es ausgeschlossen, dass Sie Kultursenator bleiben?
Es gibt nun mal die strikte Begrenzung auf acht Fachressorts, deshalb kann ich nichts ausschließen. Der Wunsch, ein eigenständiges Kultur-Ressort zu schaffen, ist bei dieser Limitierung fast nicht umsetzbar.

Kanzler wollen Sie nicht mehr werden?
Ich kandidiere für das Amt des Regierenden Bürgermeisters – und das ist auch gut so.