Wir wollen spielen!

Kinder als Schauspieler

Die alte Theaterregel, dass Kinder und Tiere nicht auf die Bühne gehören, ist längst gebrochen. Derzeit übernehmen am Deutschen Theater und am Grips Theater Kinder sogar die Hauptrollen. Und wie!

Text: Friedhelm Teicke

Wenn Emmi Büter in „Alice“ als Herzkönigin die Bühne betritt, ist das ein Ereignis. Rüschenrauschend stapft die Zwölfjährige in übergroßem Reifrock, mit roter Perücke und diabolischer Vorfreude die Stufen der Zuschauertribüne in den DT-Kammerspielen hoch. Nachdem sie zuvor bereits ihren willfährigen Hofstaat zusammen­gestaucht hat, nimmt sie sich jetzt das Publikum vor.

Denn in Nora Schlockers fabelhafter Inszenierung mit dem Jungen DT sind alle das Mädchen Alice auf ihrer Reise ins Ungewisse – sowohl die 16 Protagonisten zwischen 9 und 19 Jahren auf der Bühne als auch wir Zuschauer, die wir wie Alice in dem weltberühmten Wunderland Seltsames erleben.

Emmi spielte zuvor ebenfalls eine Alice, sie spielt auch ein Schwein und sich selbst. Jetzt aber ist sie in das Kostüm der Herzkönigin geschlüpft. Wie ein irritierender Zwitter aus der extravaganten Pippi Langstrumpf und der grausamen Virgin-Queen Elisabeth I. gibt sie genüsslich die maßlose Machtfrau, eine kindliche Monster­majestät, die ständig Todesurteile verhängt.

Einen Zuschauer in Reihe acht, den sie sich nun erwählt hat, fordert Emmi in einer grandiosen Mischung aus kindlich charmanter Sanftheit und plötzlichen Zornes­ausbrüchen zu völlig sinnlosem Tun auf: Auf­stehen, wieder Hinsetzen und erneut Aufstehen.

Emmi Büter in „Alice“ als Herzkönigin – Foto: Arno Declair

Bislang kriegte sie jeden Zuschauer zum Mittun. Emmis furioses Solo als „eine Königin, vor der man sich fürchten will, sie aber nur zur Lieblings­figur krönen kann“, begeistert nicht nur die Rezensentin im Fachblatt „Die junge Bühne“, die Emmi Büter als „winzigen, wütenden Wirbelwind, mit der Präsenz eines in Feenstaub getränkten, russischen Stabsoffiziers“ sehr treffend beschreibt.

Als Emmi einige Zeit nach der Premiere in der Kantine des Deutschen Theaters pausiert, sitzt da ein junges und, wie sich zeigt, sehr selbstbewusstes Mädchen, das schon genau weiß, was es will. Aber beileibe keine kindliche Diva und weit entfernt von dem Hauch Kinski-Irrsinn, der in ihrer irritierenden Darstellung der Herzkönigin mitschwingt.

Erstaunlich abgeklärt reflektiert die Sechstkläss­lerin ihren Spaß an der Rolle: „Die Herzkönigin ist einfach die große Szene von mir“, sagt sie. „Und die perfekte Figur für mich: Sie ist laut, darf alles, führt über alle das Kommando und muss dabei nie Angst haben, dass jemand dagegen muckt. Und dann hat sie noch so einen richtig geilen Rock an und kriegt ein richtig geiles Make-up – was will man mehr?“

Es ist immer schön, Kindern bei der Entfaltung ihrer ganz persönlichen Individualität zuschauen zu dürfen. Emmi ist da eine ganz besondere Marke. Und sie haut noch mehr solche bemerkenswert reflektierten Sätze raus. Dass etwa in Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ und dessen Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln“ – den Vorlagen für das Stück – Kriterien wie Zeit und Raum, Moral und Vernunft mächtig verschoben werden, findet sie nicht verwirrend, sondern anregend: „Es wird immer behauptet, dass Kinder so was wie Hello Kitty brauchen. Aber tatsächlich interessieren uns Kinder verrückte Geschichten. Deshalb ist ,Alice‘ die perfekte Kindergeschichte. Und das Wunder­land kann doch auch unsere Welt sein, wenn jemand anderes regieren würde und eben einen Krieg mit Lollis führt. Denn die Welt ist ja bunt.“

In die Theaterwelt ist Emmi schon sehr früh geraten, durch einen Workshop, den eine Schau­spiellehrerin an ihrer Grundschule gegeben hat. Da war sie sechs und hat ihrer Mutter abends kleine Stücke aus ihren Lieblingsbüchern vor­gespielt und dabei natürlich alle Rollen übernommen. „Ich habe damals aber nie darüber nach­gedacht, dass das ein Beruf sein könnte. Ich habe einfach gespielt“, erzählt sie. „Ich wusste gar nicht, dass Schauspielen überhaupt ein Beruf ist. Als ich klein war, wollte ich Eisverkäuferin werden, Raumschifffahrerin oder Feuerwehrfrau. Erst mit acht oder so, als ich wusste, dass das tatsächlich ein Beruf ist, wollte ich Schauspielerin werden.“

Seit einigen Jahren ist Emmi bereits an der privaten Schauspielschule Young Talents, in ihrer Gruppe ist sie mit zwölf das jüngste Kind, „die anderen sind bereits 18“. Das ist der jungen Kreuzbergerin aber egal, genauso wie die Altersspannbreite ihrer Kollegen bei „Alice“ gar kein Problem ist. Auch vor vielen Leuten zu spielen, macht ihr nichts aus. „Nur kurz bevor die Vorstellung beginnt, habe ich immer ein komisches Gefühl“, sagt sie. „Denn ich träume immer, dass ich etwas falsch mache. Und dann denke ich manchmal, das sei wirklich geschehen. Doch wenn die Vorstellung dann losgeht, ist alles weg. Dann bin ich ganz im Spiel.“

Beim Jungen DT, dem Jugendprojekt des Deutschen Theaters, ist sie zum ersten Mal dabei. Ihre Mutter hörte von dem Casting für „Alice“, Emmi hat vorgesprochen und wurde genommen. Nun, das hat das Team sicher nicht bereut.

„Erst werde ich Schauspielerin, dann Regisseurin. So ist das doch“

Drei Produktionen macht das Junge DT pro Jahr, zwei in der Box und eine Kammerspiel-Produktion. „Wir verstehen uns aber nicht als Schauspielschule“, sagt Birgit Lengers, die Leiterin der Jungen Sparte. „Es sind eher Ausnahmen, wenn Kinder wie Emmi da auch schon eine Vorgeschichte haben.“ Das Junge DT ist kein festes Ensemble, für jede Produktion wird neu gecastet. „Das Casting wird auf verschiedenen Kanälen ausgeschrieben, etwa über das Fahr­gastfernsehen in der U-Bahn“, erzählt Lengers. „Da gibt es immer eine große Resonanz: für ,Alice‘ haben sich rund 180 Kinder beworben.“

Fast alle großen Berliner Theater haben ihre Jugendprojekte; so gibt es die Polyrealisten an der Schaubühne, die Gruppe P14 an der Volksbühne oder Gorki X am Maxim Gorki Theater. Den Theatern geht es bei diesen Angeboten nicht nur um Theaterpädagogik, sondern auch um eine jugendliche Perspektive auf die Stoffe. Den Eltern geht es wohl darum, ihr Kind schon früh künstlerisch zu schulen. Eltern, die vielleicht auch die stille Hoffnung hegen, dass der Nachwuchs „entdeckt“ und in der Folge reich und berühmt wird, melden ihr Kind aber meist eher bei einer Casting-Agentur für Film und Fernsehen an.

Nur fünf Agenturen sind im Verband deutscher Nachwuchsagenturen organisiert, der sich zur seriösen Casting-Vermittlung für Kinder verpflichtet hat. Emmi wird noch von keiner Agentur vertreten, ihre Mutter will das nicht, anders als ihr gleichaltriger Mitspieler Emil von Schönfels. Emil spielte bereits in der Junges-DT-Produktion „Dieses Kind“ mit DT-Schauspielern wie Bernd Moss und Bernd Stempel und er agierte auch in Kinofilmen wie „Sputnik“ mit Devid Striesow und „Monuments Men“ mit George Clooney.

Der elfjährige Arthur Reuß steht dagegen noch ganz am Anfang seiner Schauspielkarriere. Immerhin spielt er in seiner allerersten Theater­produktion gleich die Hauptrolle. In der Grips-Theater-Inszenierung „der kreidekreis“, dem ersten Kinderstück, das Regisseur und Dramatiker Armin Petras geschrieben hat, spielt Arthur den Jungen Li. Schwer krank möchte der auf der Kinderstation an seinem Geburtstag die Geschichte vom Kreidekreis aufführen, und die anderen Kinder, seine Mutter, die Ärzte und Pfleger müssen mitspielen.

Es ist das erste Stück in der 45-jährigen Geschichte des weltberühmten Kinder- und Jugend­theaters, in dem nicht nur für Kinder gespielt wird, sondern auch Kinder auf der Bühne stehen. „Ich ­kannte das Grips Theater, habe mit meiner Familie ,Pünktchen und Anton‘, ,1848 – Die Geschichte von Jette und Frieder‘ und ,Die fabelhaften Millibillies‘ geguckt“, erzählt Arthur. „Aber ich hatte selbst vorher nie wirklich was mit Theater zu tun. Na gut, einmal hab ich in einem Krippenspiel mitgespielt.“

Seine Mutter schlug ihm vor, beim Workshop im Grips mitzumachen, auf dem für „der kreidekreis“ gecastet werden sollte. „Dann haben wir den Termin aber vergessen. Als noch ein zweiter Termin angesetzt wurde, bin ich aber hin – und es hat geklappt.“

Das Stück beginnt im Foyer des Podewil, inmitten des wartenden Publikums. Für Arthur aber kein Problem. „Vorher bin ich immer sehr aufgeregt, aber wenn’s losgeht, legt sich das. Manchmal muss ich auch schon lachen, wenn ich im Publikum jemanden entdecke, den ich kenne.“

Das Spielen macht ihm Spaß, aber ob er auch mal Schauspieler werden will, weiß er nicht. Theaterblut wie Emmi hat er anscheinend nicht geleckt. Für Emmi dagegen ist schon alles klar. „Erst werde ich Schauspielerin, dann Regisseurin“, sagt sie. „Denn das ist doch oft so: Viele Schauspieler werden später Regisseur. So wie Katharina Thalbach, die finde ich zum Beispiel ganz toll. Obwohl sie schon etwas älter ist und total klein, hat sie so eine faszinierende Präsenz. Sie hat was Männliches und gleichzeitig Weibliches – wie ein Kobold. Ich will später auch auf die Ernst-Busch-Schauspielschule, weil sie da war.“

Und noch eine Gemeinsamkeit würde es geben. Auch Katharina Thalbach stand bereits als Kind auf der Bühne.

Foto: Arno Declair