Der Regisseur Kirill Serebrennikov darf Moskau nicht verlassen. Gleichwohl probt er derzeit seine Inszenierung „Decamerone“ fürs DT. Ein Probenbesuch
Text: Tom Mustroph
Moskau im Februar. Im ersten Stock des Gogol-Centers spricht Berlins Gesangs-Diva Georgette Dee von der Liebe: „Ich erinnere mich an die Liebe, aber verstanden habe ich sie nie.“ Die Liebe, aber auch die Hindernisse, die ihrer Erfüllung im Wege stehen, sind zentral in Boccaccios Novellensammlung „Decamerone“. Dass Georgette Dee ausgerechnet in Moskau über die Liebe spricht, hat sie Kirill Serebrennikov zu verdanken. Denn auf dessen Idee geht diese Koproduktion mit dem Deutschen Theater zurück.

„Liebe ist für mich vor allem Spannung. Sie ist wie ein Blitz, ein Feuer – elektrisierend, aber auch zerstörerisch“, meint Serebrennikov. Und ihn, ein Meister des intensiven Theaters, reizt vor allem, das Atmosphärische, das in der Luft Liegende der Liebe in eine Form zu bringen. „Mein Job ist es, das Unsichtbare sichtbar zu machen“, sagt er im Gespräch am Rande der Probe.
Während oben geprobt wird, trifft unten schon das Publikum für die Repertoire-Vorstellung ein. Das Gogol-Center ist beliebt, weil es jung und frech ist. Serebrennikov übernahm es 2012 und verwandelte es von einem verschlafenen Stadttheater in ein multidisziplinäres Zentrum aus Theater, Performance, Tanz, Videokunst und Musik. Sogar der Putz innen ist abgeklopft, die nackten Ziegel erinnern an das wilde Berlin der 1990er-Jahre.
Von der Bedrohung, die über dem Theater schwebt, ist nichts zu spüren. Es gibt sie aber. Im Mai 2017 führte hier die Polizei eine Razzia durch. Drei Monate später wurde Theaterleiter Serebrennikov verhaftet. Er blieb 20 Monate in Hausarrest. Der Vorwurf: Veruntreuung von Fördergeldern in Höhe von 133 Millionen Rubel, knapp zwei Millionen Euro. Seine Anwälte bezeichnen die Anklage als absurd. Und tatsächlich fand das Gericht heraus, dass das Theater mit einer Gesamtförderung von 214 Millionen Rubel künstlerische Werke im Werte von mehr als 300 Millionen Rubel erarbeitete. Es war also wirtschaftlich erfolgreich.

Dennoch läuft das Verfahren weiter. Serebrennikov möchte deshalb nichts zu den Vorwürfen sagen, auch nichts über die Zeit im Hausarrest. Sein Stück „Outside“, das das Festival Neue Internationale Dramatik (FIND) Mitte März in der Schaubühne eröffnen wird, inszenierte Serebrennikov aus dem Hausarrest heraus; es wurde vergangenes Jahr beim Festival d’Avignon uraufgeführt – in Abwesenheit des Regisseurs.
Doch immerhin fanden er und sein Ensemble einen Weg, weiterhin Kunst zu machen. „Wir probten, er bekam die Videoaufzeichnungen davon und schaute sie sich die ganze Nacht an. Am Morgen holte der Assistent die Notizen, in denen stand, was er gut fand und was nicht. Und wir probten nach seinen Anweisungen, zeichneten alles erneut auf und schickten es ihm wieder“, erzählt Yang Ge. Die chinesisch-stämmige Schauspielerin ist nun auch in „Decamerone“ dabei.

Das Ensemble dafür besteht aus Schauspielenden des DT und des Gogol-Centers. Im Probenraum herrscht ein Sprachgewirr aus Deutsch, Englisch und Russisch. Eine Live-Dolmetscherin versucht, zwischen den Sprachen zu vermitteln, die Schauspieler*innen verständigen sich untereinander auf Englisch. Das funktioniert erstaunlich gut. Und auch der Zusammenprall der unterschiedlichen Theaterkulturen, der stärker körperlich orientierten russischen und der mehr auf Sprache, Stimme und Analyse beruhenden deutschen, verläuft fruchtbar. „Ich denke, dass die beiden Schulen sich sehr bereichern könnten. Diese wahnsinnige körperliche Präsenz und Technik, die die russischen Kollegen haben, die ist schon sehr eindrücklich“, bilanziert Georgette Dee.
Im vergangenen April wurde Serebrennikov aus dem Hausarrest entlassen, rechtzeitig genug, um Russlands höchsten Theaterpreis, die „Goldene Maske“, entgegennehmen zu können. Er erhielt ihn für das Ballett „Nurejew“, eine Produktion im Bolschoi Theater über Russlands großen Balletttänzer Rudolf Nurejew. In Moskau kann Serebrennikov live die Proben leiten, die Endproben in Berlin wird er aber nur per Skype verfolgen können. Und auch zur Premiere werden ihn die russischen Behörden nicht aus dem Land lassen.
Premiere „Decameron“: 8.3., 19 Uhr, weitere Vorstellungen: 9. + 10.3., 19.30 Uhr, Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte, Eintritt 30–48, erm. 9 €
„Outside“ beim FIND.: 13.3., 19.30 Uhr, weitere Vorstellungen 14.3. 19 Uhr, 15.3., 18 Uhr, Eintritt 7-49, erm. 9 €