Mein Kiez

Prenzlauer Berg

Wo wohnst du eigentlich? zitty-Autoren schreiben über ihren Kiez. Über die Straße, in der sie leben, über den kleinen Laden an der nächsten Ecke, über nette und weniger nette Nachbarn. Diesmal: rund um die Gethsemanekirche.In dieser Geschichte über Prenzlauer Berg werden folgende Begriffe nicht vorkommen: Schwaben, Gentrifizierung, Kinderkriegen, Muttersein, Latte Macchiato, Bubble Tea, Yoga, Karma, Biedermeier, Bionade, überhaupt Bio.

In dieser Geschichte geht es um einen Häuserkampf. Er wird mit stillen Waffen geführt, tut deshalb aber nicht weniger weh. Solange er wütet und es Opfer zu beklagen gibt, so lange werde ich mich in meinem Kiez zu Hause fühlen – hier, zwischen den überspielten Helmholtzkollwitzplätzen und den unterspielten Pankow-Parks, hier im Schatten der Gethsemanekirche, deren schwere Glocken jeden Morgen eine Erinnerung in die gut eingerichtete Ruhe schlagen.

Es ist die Erinnerung daran, dass die holprigen Straßen und herrschaftlichen Häuser, die sich um den Backsteinbau gruppieren, schon weit gewichtigere Kämpfe erlebt haben – auch mit stillen Waffen. Es waren die Kerzen der friedlichen Revolution von 1989. Die damals errungene Freiheit, sich gegenseitig öffentlich auf die Nerven gehen zu dürfen, nutzen wir heute ausgiebig, hier in meiner Kampfzone rund um die Gethsemanekirche mit ihren vielen kleinen Läden und ihren vielen kleinen Schäden.

Flugblätter und Versammlungen

Es kommt inzwischen häufiger vor, dass sich Flugblätter in meinem Briefkasten verfangen. Es ging los mit einer Einladung zur Einwohnerversammlung. Ich fand mich im völlig überfüllten Gemeinderaum ein, in dem eine Frau und ein Mann ihre Idee vorstellten, das Rondell rund um die Kirche vom Verkehr zu befreien. Sie zeigten Fotos von einem Kinderfest in der Kirchengasse, gemalte Sonnen auf Pflastersteinen, und schwärmten vom zukünftigen „Gethsemaneplatz“.

Nun war allerdings auch der gemeine Anwohner anwesend und erkundigte sich nach den wegfallenden Parkplätzen: „Ick meen jetze nich für Kinderwagen.“ Es meldete sich auch eine Frau, die berichtete, dass sie direkt über dem Spielplatz hinter der Kirche wohne und nicht mehr das Fenster öffnen könne wegen des Lärms – und sie meinte „jetze nich die Autos“. Woraufhin im Gemeindehaus ein heftiger Disput losbrach zwischen Alteingesessen („Wer in eine Stadt zieht, muss Autos und Kinder vertragen!“), Neueingesessenen („Warum können Sie nicht S-Bahn fahren?“ – was zu lauten Lachern führte) und gerade Zugezogenen („Berlin ist so schön, deshalb fahre ich Fahrrad“). Schließlich merkte eine ältere Frau an, die Kinder von früher – sie meinte ganz früher – hätten nicht so laut rumkrakeelt wie die heutigen Blagen. Daraufhin ging es für den Rest des Abends um die richtige Kindererziehung im Kiez.

Übertriebene Gemütlichkeit

Aus dem Projekt mit dem Gethsemaneplatz scheint seitdem nichts mehr zu werden, eine Dafür-Partei hat sich jedenfalls noch nicht gegründet. Zuletzt wurde immerhin ein Fußgängerüberweg eingeweiht, was manche Bürgerbewegten sogleich zum Anlass nahm, jedem Fußgängerüberwegbenutzer ein Sektchen auf dem Bürgersteig auszugeben.

Man kann’s auch übertreiben mit der Sehnsucht nach Gemütlichkeit. Denn eigentlich ist es gemütlich genug hier: Rund um die Kirche erwarten einen – neben den offenbar zahlreich benötigten Rechtsanwälten und Psychologen – die seit Wendezeiten abgeschrammelte, aber gerade deshalb liebenswerte Kneipe „Eselsbrücke“, einer der üblichen Vietnamesen mit üblich dauerhaftem Aktionsessen, eine ganz normale Bar namens „Bar“, ein mit AS-Roma-Zeitungsausschnitten vollgekleisterter Pizzabäcker, ein Lokal ohne Eigenschaften, das nach der auch Socken verkaufenden Betreiberin benannt ist und schließlich eine letzte Zuflucht für Alkoholiker, die „Bierbar Nordring“ mit dem Willkommensgruß „Molle und Korn nur 2,50 Euro“. Eigentlich ist hier für jeden etwas dabei. Aber nicht jeder findet das gut.

Es kursieren nämlich auch Flugblätter in den Briefkästen, die von einer neugegründeten Anwohner-Dagegenpartei aufgesetzt worden sind. Darin heißt es unter anderem: „Am besten, wir gehen koordiniert vor, damit ersichtlich wird, dass wir nicht nur Einzelkämpfer sind.“ Die „gemeinsamen Gegenmaßnahmen“ werden gleich mitgeliefert: Anzeigen bei der Polizei, Beschwerden direkt an Frau Gilka vom Bezirksamt.

Grund für die stille Verschwörung ist die nicht immer stille und deshalb weit über den Kiez hinaus bekannte Fußballkneipe „Schwalbe“. In der Tat ist sie ein Ärgernis – aber nur, weil sich der Laden inzwischen zum Vereinsheim des 1. FC Köln gewandelt hat und damit normalen Fußballfans nicht mehr vermittelbar ist. Deutlich schlimmer findet der Beschwerdekoordinator aus der Nachbarschaft allerdings jubelnde Fußballfans an sich.

Und jetzt wird es spannend, denn eine Gegen-Dagegen-Initiative gibt es auch schon. Sie wird angeführt von einem 24 Jahre jungen Krankenpfleger, der überhaupt kein Fußballfan ist, dafür aber Anhänger eines lebendigen Kiezes. Es werden Unterschriften für den Erhalt der Kneipe gesammelt und an Frau Gilka vom Bezirksamt geschickt. Die sieht sich nun erstmals bei einer Lärmklage mit Zeugen und Gegenzeugen konfrontiert und spricht deshalb von einem „ungewöhnlichen Verfahren, das noch nicht abgeschlossen ist“. Kann es ein schöneres Kompliment für einen lebendigen Kiez geben?

Am Ende macht doch jeder, was er will

Manchmal wird es mir unheimlich mit der politischen Korrektheit meiner Umgebung. Eine Nachbarin aus der Greifenhagener Straße soll sich zuletzt beschwert haben, dass das schnuckelige französische Café „Le Midi“ unter ihrer Wohnung keine Raucher mehr zulassen dürfe. Im Freien wohlgemerkt. Einige Schlichtungsversuche scheiterten, so dass plötzlich der Nichtraucherschutz in unserer Straße sogar unter freiem Himmel gelten sollte.

Ich fragte mich, was ich machen soll, wenn ich Besuch bekomme, den ich zum Rauchen auf den Balkon schicken will. Kann ich das meiner Umwelt überhaupt noch zumuten? Und was ist mit meinem Balkongrill? Darf ich den jetzt nur noch in der Wohnung in Betrieb nehmen? Oder müssen die Würstchen kalt bleiben bis für sie ein Solarmodell entwickelt worden ist? Aber all diese Fragen erledigte der kalte Sommer irgendwie von selbst und im nächsten Frühling dürfte sich das Thema in Luft aufgelöst haben. Denn in den Nebenhäusern gab es gleich eine Unterschriftensammlung fürs Rauchen, initiiert von einer Nichtraucherin.

So macht am Ende hier doch jeder, was er will, und trifft dabei andauernd auf die anderen. Regelmäßig gibt es Hoffeste, Baustellenfeste, Pflanzfeste. Jahr für Jahr setzen wir ein paar neue Sträucher um einen Straßenbaum herum und stellen ganz ohne Bürgerbegehren den Grill auf den Bürgersteig. Da stört es auch nicht weiter, wenn ein Mann vorbeiläuft, um uns zuzuraunen: „Wärt Ihr bloß auf Eurem Dorf geblieben!“ Der Dorfhund, den er hinter sich herzieht, muss nun einen anderen Baum zukacken.

Doch abgesehen vom Umgang miteinander sind wir vom Dorfleben doch weit entfernt – hier in unserer kleinen Kiezweltstadt. Denn ist nicht genau das die richtige Mischung? Beim „Kopfgeldjäger“ werden billig die Haare gekürzt, nachdem man, wie beim Arbeitsamt, eine Nummer gezogen hat, im Kosmetikstudio nebenan kostet die Pediküre größeres Geld.

In der „Kleinen Eiszeit“ wird noch das Softeis „made in GDR“ verkauft, ein paar Häuser weiter gibt es die neumodische Joghurtpampe. In „Hackers Bäckerei“ reichen ältere Damen mit Kittelschürze selbstgeknetete Ostschrippen und die klitschigsten Splitterbrötchen der Stadt über die Auslage, gegenüber umschrammelt der Punk-Bäcker die letzten Langhaarigen.

Manchmal wird der Kampf gewonnen

Im Lottoladen wird man im Schönhauser-Allee-Slang begrüßt: „Du siehst heute morgen aber wieder Scheiße aus.“ Um die Ecke warten die Schönhauser Allee Arcaden mit künstlicher Freundlichkeit und künstlich angelegten Beeten, auf denen Omas ihre Hunde Gassi führen, während ihre Enkel eine Sandmännchen-Ausstellung bewundern. Es ist alles da, vor allem alle Nuancen. Um sie tobt der stille Häuserkampf. Manchmal wird er sogar gewonnen.

Die Kiezkantine ist ein Beispiel dafür. Viele Jahre bot das Restaurant „Fellas“ mit seiner geschwungenen Bar und einer verwunschenen Wendeltreppe das beste Mixtape für einen bunten Abend: gut geklopfte Steaks, gut geschleuderte Salate und gut gerührte Drinks zu Nachbarschaftspreisen. Vor einem Jahr übernahmen ein paar Mitte-Spusis den Laden, hängten ein Bild von Klaus Kinski an die Wand, vergraulten den Koch und verdoppelten die Preise. Zunächst kamen ihre locker bemantelten Freunde und deren leicht ummantelten Freundinnen noch mit dem Taxi angerauscht, doch der Kiez war ob des Bussi-Ballyhoos nachhaltig beleidigt.

Nun, nach einem unausgesprochenen Boykott, hat genauso plötzlich der alte Koch das „Fellas“ gekauft und die alte Karte wieder eingeführt. Die Wiedereröffnung war ein wundersames Wiedersehen einer verschwundenen Nachbarschaft. Da, wo der Kinski hing, prangt nun ein vergilbtes Bild von der Gastwirtschaft des Genossenschaftshauses, die hier in Vorkriegszeiten schon Kiezkantine war. Darauf sitzen alte Männer mit Hüten und Pfeife unter dem Banner: „Geh ein und aus, bleib Freund dem Haus“.

Womöglich ist das die Lösung im gegenwärtig allgegenwärtigen Ringen um die Zukunft: die verdeckte Vergangenheit des Viertels nicht zu vergessen. Der Werkzeugladen „Max Werk“ hat einen neuen Renner im Schaufenster: das Fotobuch „1055 Berlin“ mit der alten ostdeutschen Postleitzahl im Titel. Beim Blättern in der Sammlung von Schwarz-Weiß-Bildern des an der weißen Mauer endenden Prenzlauer Berg lässt sich sehen, wie rußschwarz die Gegend vor Kurzem noch war. Und dass Künstler und Lebenskünstler das heute umkämpfte und von Baustellen umrissene Terrain vor dem lebendigen Tod bewahrt haben.

Heute wohnen sie alle hier, die neuen Reichen, die alten Armen, die Für-Immer-Ossis, die War-ich-wirklich-mal-einer-von-denen-Wossis und die neuen Wessis, die lieber Ossis sein wollen. Auch die Ahnungslosen hinter ihren überdimensionalen Winter-Sonnenbrillen. Es mag sein, dass Rainald Grebe recht hat, wenn er singt: „Die Menschen hier sehen alle gleich aus – irgendwie individuell.“ Es stimmt aber auch, wenn André Herzberg von der einst kritischen DDR-Rockband Pankow über seinen und meinen Kiez meint: „An manchen Stellen kann man sehen / dass alles immer schöner wird / ich weiß, es hört sich g’rade nicht so an / doch ich bin eigentlich ganz gerne hier“.

Du auch?

Robert Ide ist aufgewachsen in Pankow und lebt seit dem Umbruch in Prenzlauer Berg. Von ihm erschien das Buch „Geteilte Träume – Meine Eltern die Wende und ich“.

 

Prenzlauer Berg

Sehen: Fotobuch „1055 Berlin – Der Prenzlauer Berg 1980 – 1990“ von Jürgen Hohmuth, erhältlich bei Max Werk Eisenwaren, Stargarder Straße 5
Schmecken: Restaurant Fellas, Stargarder Straße 3, täglich ab 10 Uhr geöffnet
Hören: „Neuer Tag in Pankow“ von Pankow, als Album gerade erschienen bei Buschfunk
Riechen: Bäckerei Hacker, Stargarder Straße 69, wochentags ab 7 Uhr, samstags ab 6 Uhr
Tasten: Gedenkstelle an die friedliche Revolution mit Erinnerungstasten; gegenüber der Gethsemanekirche, Stargarder Straße 77