Interview

Renate Künast

»Arm aber sexy ist mir für meine Stadt Berlin nicht genug«

Die Herausforderin Renater Künast über die Defizite dieser Stadt, Tempo 30, frühere Provokationen und ihre Frisur

Frau Künast, zum 30. Geburtstag der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat der Fraktionschor Ihnen ein Ständchen gesungen. Können Sie sich noch an das Lied erinnern?
Natürlich und zwar mit Freude! Es gibt ein paar Standardlieder, die dichten die ChorMitglieder immer um und sagen damit die Zukunft voraus.

Diesmal war es: Mein kleiner, grüner Igel, regiert bald in Berlin, hollari, hollari, hollaro. Haben Sie sich das wirklich gut überlegt, sich die Niederungen der Landespolitik anzutun?
Es geht um die Stadt, in der ich lebe. Landespolitik sind doch keine Niederungen, sondern da geht es praktisch und konkret um den Alltag der Menschen. Zusätzlich ist Berlin die größte Stadt in Deutschland und ich höre immer wieder, dass nicht allein die Wirtschaft dieser Stadt, sondern auch die Menschen dieser Stadt diese Rolle endlich ausfüllen wollen. Berlin muss zeigen, wie man mit dem demografischen Wandel umgeht, wie man Arbeitsplätze schafft. Und: Berlin muss Klimahauptstadt werden.

Vor allem aber warten Buschkowsky-Themen auf Sie: Integration, Hartz IV, Miete. Was raten Sie Eltern, deren Kinder am Nachmittag aus der Kita in Neukölln kommen und plötzlich Türkisch sprechen?
Diese Themen liegen mir auf der Seele, Integrationspolitik ist einer der Gründe, warum ich kandidiere. Ich glaube nicht, dass wir es hier allein mit dem Problem eines Bezirks zu tun haben, sondern mit mehr als zehn Jahren miserabler Bildungspolitik. Berlin ist total aufregend, viele wollen hierher. Aber eine Stadt muss auch die Probleme des Alltags lösen. Es reicht nicht zu sagen: Berlin hat viele Touristen und vielleicht werden es ein paar mehr.

Aber nochmal: Verstehen Sie deutsche Eltern, die private Initiativen für Kitas gründen?
Ja, natürlich verstehe ich das als Bürgerin dieser Stadt und ich höre das oft von den Eltern. Ich mache niemandem einen Vorwurf, der sagt: „Mein Kind lernt woanders mehr.“ Aber was ein individuelles Elternteil tut, ist als Gedanke für eine Regierende Bürgermeisterin verboten. 17 Prozent der Kinder werden mit Sprachförderbedarf eingeschult und da sind immer mehr Deutschstämmige dabei. Da kann die Politik nicht nur verstehen, da muss sie handeln.

Sie sagen, jedes Kind soll einen Abschluss machen. Wie soll das funktionieren?
Indem wir dafür sorgen, dass wir endlich mehr qualifizierte Pädagogen in den unterbesetzten Einrichtungen haben.  Als erstes brauchen wir einen Personal-Entwicklungsplan für Erzieher und Erzieherinnen. Die sollen frühzeitig, noch während der Ausbildung, Verträge bekommen. Gleiches gilt für die Lehramtskandidaten.

Sie wohnen in Charlottenburg. Mal angenommen, die Mieten im Kiez werden Ihnen zu teuer. In welchen Stadtteil würden Sie ziehen?
Hm.

Wedding oder Neukölln?
Kreuzberg.

Wedding oder Neukölln?
Kreuzkölln. Auch wenn sich im Wedding gerade etwas tut. Da haben Anwohner des Leopoldplatzes gerade eine Bürgerplattform mit Streetworkern gegründet. Nach dem Motto: Wenn es kein Geld gibt, helfen wir uns eben selbst.

Klaus Wowereit ist ein typischer Ku’damm-Bewohner. Was ist mit Ihnen? Sie leben im selben Bezirk. Wann waren Sie das letzte Mal in der Paris Bar?
In der Paris-Bar war ich vor drei, vier Jahren zu einer Geburtstagsfeier. Aber es war nicht meiner.

Wann waren Sie zuletzt beim Promi-Friseur Udo Walz?
Nie. Da verwechseln Sie mich.

Haben Sie schon einmal überlegt, sich eine neue Frisur zuzulegen.
Fragen Sie so etwas auch Männer? Ich habe zwischendurch mal den Friseur gewechselt. Dadurch gibt es immer wieder kleine Unterschiede. Aber mir wieder längere Haare wachsen zu lassen? Da scheue ich den Übergang.

Sonst haben Sie sich aber schon verändert. Früher haben Sie in WGs gelebt, viel gekifft. Sind das Jugendsünden?
Ich hoffe, dass ich mich verändert habe! Das ist ein ganz normales Leben in Berlin.

Aber als Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus wollten Sie noch Gefängnisse und den Verfassungsschutz abschaffen.
Das war natürlich eine Provokation. Ich habe selbst in einer Berliner Vollzugsanstalt gearbeitet und mir würde vieles dazu einfallen. Die Gefängnisse von heute sind nicht mehr die von damals. Es gibt gute Anstaltsleiter. Die kümmern sich um die Rechte der Gefangenen, da entwickelt sich etwas. Im Jugendbereich allerdings müsste sofort erheblich mehr gemacht werden.

Und der Verfassungsschutz?
Den haben politische Freunde und ich in Berlin ja faktisch abgeschafft. Dort herrschten vordemokratische Zustände. An der Aufdeckung der Mängel habe ich mit Hingabe und Liebe gearbeitet. Durch unseren Einsatz wurde der Landesverfassungsschutz zuerst nachgeordnete Behörde, später Abteilung der Senatsverwaltung.

Zur Drogenpolitik. Was würden Sie machen, wenn Sie entdecken, dass Ihr Nachbar auf dem Balkon Cannabis anbaut?
Das Problem ist nicht die Hanfpflanze auf dem Dach, das Problem sind die verunreinigten, chemisch hergestellten, gesundheitsschädlichen Drogen und die Beschaffungskriminalität. Den kriminellen Dealern wollen wir das Handwerk legen, aber den Alltagskonsum von weichen Drogen entkriminalisieren. Und die primär Abhängigen gehören nicht in Gefängnisse, sondern in Therapieeinrichtungen.

Was haben Sie am 1. Mai gemacht? Waren Sie in Ihrem Ferienhaus in Schleswig-Holstein oder am Kottbusser Tor?
Mein Gott, ich kann gerade noch auseinanderhalten, wo ich an Himmelfahrt war und wo an Pfingsten.

Ist der 1. Mai kein besonderer Tag für Sie?
Doch. Früher war ich immer in Kreuzberg, um zu schauen, was die Polizei macht, weil das tags darauf Thema im Innenausschuss war. Von diesem Ritual habe ich jedoch abgesehen, weil ich die Gewalt einiger Demonstranten auch für ritualisiert halte. Die Berliner Polizei ist mittlerweile anders ausgebildet. Auch dank uns Grünen: Das waren lange Debatten über Deeskalationsstrategien.

Wo fängt Gewalt an, wo hört legitimer Protest auf? Würden Sie als Regierende Bürgermeisterin zulassen, dass Demonstranten Wasserbomben auf Neonazis werfen?
Wissen Sie, wofür ich bin? Ich bin dafür, dass der Senat in einem rechtssicheren Verfahren einen guten Polizeipräsidenten oder eine gute Polizeipräsidentin findet. Schon das scheint für den Senat eine Überforderung zu sein. Die Polizeipräsidentin oder der Polizeipräsident bestimmen den Einsatzleiter, der auf Basis des Gesetzes handelt. Da gilt für alle Demonstrationen das Gleiche, egal welche politische Gesinnung dahintersteckt. Ich werde den Teufel tun, zu behaupten, dass ich eine ausgebildete Einsatzleiterin wäre.

In Friedrichshain-Kreuzberg haben Demonstranten zum Teil verhindert, dass sich Investoren direkt am Spreeufer ansiedeln. Sind Strandbars wichtiger als Jobs und Steuergelder?
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob in Städten alles privat vergeben und eintrittspflichtig sein sollte. Ein durchgängig freier Uferweg ist für mich selbstverständlich. Das gilt dann für alle Beteiligten.

Macht es Ihnen Sorge, dass die Zentren immer teurer werden?
Die Landespolitik hätte in den vergangenen zehn Jahren die Zweckentfremdung verhindern können, durch die massenhaft Wohnungen in Ferienwohnungen umgewandelt werden. Auf der anderen Seite brauchen wir eine Bundesratsinitiative zur Modernisierungsumlage. Nur noch energetische Sanierungen und Barrierefreiheit sollen umgelegt werden können – Luxussanierung nicht. Berlin braucht ein neues Leitbild, dazu gehört auch ein Mietenkonzept. Da kann man von München lernen: Wer baut, muss auch einen bestimmten Anteil preiswerter Wohnungen schaffen.

Ist die Entwicklung in Prenzlauer Berg ein abschreckendes Beispiel?
Da wurde vom rot-roten Senat verpasst, zu diskutieren, was man eigentlich will. Sie können Entwicklungen nicht zu 100 Prozent aufhalten, aber ich möchte eine Mischung halten. Und das ist Aufgabe der Politik.

Sie haben in diesem Jahr geheiratet. Glückwunsch! Ein weiterer Schritt in Richtung Bürgertum. Als nächstes kommt die Koalition mit der CDU.
Da bekäme ich aber Ärger zu Hause, wenn es diesen Zusammenhang gäbe. Die Hochzeit können Sie gerne als private Gefühlsäußerung sehen.

Sie riskieren viel: Falls Sie die Wahl verlieren, gehen Sie zurück auf die Bundesebene, wo niemand mehr auf Sie wartet.
Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Diese Stadt ist Spitzenreiter bei Erwerbslosenzahlen, bei Bildungsdefiziten und Schlusslicht bei modernen Industriejobs, die ordentlich bezahlt werden. Und genau darum geht es. Wir Grüne wollen die Regierungschefin stellen, um das ändern zu können. Arm aber sexy ist mir für meine Stadt Berlin nicht genug. Ich glaube, dass die Menschen mehr erwarten dürfen von der Politik. Punkt.

Sie wohnen seit 35 Jahren in dieser Stadt, kommen aus Recklinghausen im Ruhrgebiet
… Ende September habe ich die 35 voll.

Wo ist Berlin Heimat für Sie?
Überall. Weil Berlin nicht nur ein Ort ist. Berlin ist gleichzeitig Kiez und doch Weltstadt. Berlin, das heißt, verschiedene Lebensentwürfe zu akzeptieren. Das Nebeneinander zu akzeptieren und es gleichzeitig als Gemeinsamkeit unserer Stadt zu begreifen. Das habe ich gleich am Anfang erlebt, als ich in diese Stadt kam, als wir in der Wohngemeinschaft mit Holzschuhen herumtrampelten und die alte Dame unter uns sagte: Find ich gut, dann weiß ich, dass jemand da ist. Dass ich oben klingeln kann, wenn die Glühbirne im Bad gewechselt werden muss.

Gibt es nicht einen Ort, einen Kiez, bei dem Sie sagen: Hier bin ich zuhause?
Manchmal würde ich sagen, es ist der Winterfeldtplatz. Das ist so ein typisches Berlin: Bergkäse aus dem Allgäu und Falafel. Da bin ich jede Woche, dann trifft man sich um halb zwei – entweder zufällig oder man ruft sich zusammen.

Ihre Freizeit wird jetzt weniger. Wie halten Sie den Wahlkampf aus?
Gesunde Ernährung ist wichtig. Und ich trinke im Wahlkampf keinen Alkohol. Das habe ich von Fischer gelernt. Zuletzt war ich vier Tage in Schleswig-Holstein walken. Das muss reichen.

Sie alleine im Wald mit Stöcken?
Nein, zu zweit. Am Anfang sieht das albern aus, aber wenn man einmal den Schwung mit den Armen raus hat, macht es Spaß. Ich walke auch in Berlin. Da kommen mir dann manchmal Leute entgegen und sagen: „Ach, Sie auch, Frau Künast!“

Wie oft sind Sie noch in Recklinghausen?
Selten. Nur Familienbesuche.

Was kann Berlin von Recklinghausen lernen?
(denkt lange nach) Aus dem Recklinghausen, aus dem ich weggezogen bin? Da könnten wir noch eine halbe Stunde länger wahrscheinlich ohne Ergebnis hier sitzen. Ich lebe ja nicht umsonst in Berlin.

Deindustrialisierung gab es in beiden Städten.
Das Ruhrgebiet macht sich bereits auf den Weg, sich als einheitlichen Wirtschaftsraum zu begreifen. Umso mehr gilt: Wenn wir möchten, dass Unternehmen bei uns investieren und Arbeitsplätze schaffen, müssen wir uns jetzt auf den Hosenboden setzen.

Sie sagen, Schönefeld muss kein Drehkreuz werden, es reicht auch ein Regionalflughafen. Wann habe ich das gesagt?
Wenn Sie genau nachschauen, finden Sie das nicht. Auch wenn es gern behauptet wird.

Aber was würde sich unter einer Regierenden Bürgermeisterin Künast in Schönefeld ändern?
Nun, wir brauchen Schönefeld, und wir  Grünen haben als Erste und lange dafür gekämpft, dass Tegel und Tempelhof überhaupt zugemacht werden. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass ein Senat aus SPD und Linkspartei mit dem Begriff „Internationales Drehkreuz“ Gesundheitsbelastungen für Menschen beiseite schiebt. Und dass ich damit nicht allein stehe, sehen Sie daran, dass das Umweltbundesamt jetzt sehr verantwortlich eine Prüfung von Alternativen angeht und die Bürgerinnen und Bürger sich zu Recht wehren.

Was erwarten Sie: Wird es am Ende denn ein Nachtflugverbot geben?
Das ist wieder eine ganz andere Frage. Ich habe auf der Kundgebung in Friedrichshagen auch gesagt: Kämpft für euer Recht! Der Umfang des Nachtflugverbots ist bei den Gerichten anhängig und wird nach der Wahl entschieden werden. Ich gehe davon aus, dass beim Nachtflugverbot mehr als 0 bis 5 Uhr rauskommt. Und bei den Flugrouten ist durch die Prüfung durch das Umweltbundesamt auch noch etwas drin.

Was erhoffen Sie sich von Tegel, und was ist in Tempelhof falsch gelaufen?
Mir macht Sorge, dass sich in Tegel Tempelhof wiederholen könnte. Welche Stadt kann schon weltweit sagen: Wir haben zwei frühere Flughafenflächen und die benutzen wir für die Förderung von Zukunftstechnologien und als Freizeitfläche. Einzig der Senat bleibt ein Entwicklungskonzept schuldig. Bei zwei solchen Flächen darf die Stadt doch wohl mehr erwarten, als eine Art öffentliches Rätselraten.  Das Beispiel Tegel kann für Umwelt- und Stadttechnologien stehen, mit dazugehöriger Universität und einem Gewerbegebiet, in dem  Wirtschaft und Hochschule sehr eng zusammenarbeiten.

Sie sagen immer, Berlin müsse grüne Hauptstadt werden. In Berlin steht bislang ein Windrad, in Buch. Wo sollen die neuen hinkommen?
Dorthin, wo die Kleingartensiedlungen sind? Klimahauptstadt ist für mich kein Selbstzweck, sondern eine Vision, die schlichtweg für neue Jobs in unserer Stadt und ein lebenswertes Umfeld sorgen kann. Ein paar Windräder mehr oder weniger in Buch allein sind es doch überhaupt nicht. Es geht darum, welchen Strom wir beziehen, wie wir Strom einsparen können, wie wir energieeffizienter wirtschaften. Und wie wir den erneuerbaren Energien den Weg bahnen. Bei der energetischen Sanierung kann Berlin mit seinen öffentlichen Gebäuden beginnen, die sind in einem miserablen Beheizungszustand. Und ich würde gerne haben, dass Berlin die erste Metropole der Welt ist, die ihre Gewerbegebiete zu Zero-Emissionsparks macht.

Die Grünen wollen Energie weiter besteuern. Sie sagten einmal, die Autoindustrie werde zwangsläufig schrumpfen. Gilt das auch für das BMW-Motorradwerk in Spandau?
Die Automobilindustrie weiß deutschlandweit, weltweit, dass sie teilweise Überproduktionen hat. Ich stehe dafür, die Wahrheit auszusprechen. Sichere Arbeitsplätze entstehen daher daraus, dass wir Produkte entwickeln, die auch morgen noch Absatzmärkte finden. BMW hat das in Spandau gemacht, mit Elektromotorrädern . Zusätzlich müssen wir uns alle überlegen, wie wir mit S-Bahn, U-Bahn, Bussen, vielleicht Elektrofahrrädern die Massen bewegen. Die Antwort ist: mit ökologischen Mitteln. Und innerhalb dessen wird sich automatisch die Automobil- und Motorradherstellung anpassen.  Berlin muss sich da nicht verstecken, sondern mit den vorhandenen Unternehmen und der Kompetenz in den Universitäten und Forschungseinrichtungen können wir hier ganz vorne mitmischen. Das ist mein Ziel.

Und wie lange würden Sie zur Arbeit brauchen, wenn ganz Berlin Zone 30 wird?
So, und um das jetzt auch noch mal klarzustellen: Berlin wird nicht Tempo-30-Zone. Ich habe das auch nicht gefordert, sondern allein darauf hingewiesen, dass ich es den Seniorenwohnheimen, Schulen und Kitas ersparen möchte, vor ihren Türen um eine Zone 30 kämpfen zu müssen. Ich sehe, dass das für Familien, Schulkinder und ältere Menschen ein Thema ist, mit dem sie zu oft allein gelassen werden. Wir wollen das Prinzip umdrehen, Kinderfreundlichkeit ist für mich kein Lippenbekenntnis. Die großen Verkehrsmagistralen bleiben 50-Zone, da müssen Sie sich um den Arbeitsweg keine Sorgen machen.   

Unter www.zitty.de/parteien finden Sie alle Porträts aus der  Serie „Wahl zum Abgeordnetenhaus“. Und in der nächsten zitty analysieren wir die Wahlprogramme der Parteien.