Der Nach-Volker

Interview mit Stefan Fischer-Fels

2011 trat Stefan Fischer-Fels die Nachfolge von Grips-Gründer Volker Ludwig an, der das Theater 42 Jahre lang geleitet hatte. Zuvor war der 49-Jährige erfolgreicher Leiter des Jungen Schauspielhauses Düsseldorf. Er kennt das Grips Theater gut, von 1993 bis 2003 war er dort Dramaturg.

Stefan Fischer-Fels über neue Stile, bewährte Traditionen und die Frage, warum es beim Generationswechsel am Haus noch knirscht

Interview: Friedhelm Teicke

Herr Fischer-Fels, Sie waren kaum im Amt, da stand das Grips Anfang 2012 vor der Insolvenz.

Das war eine Belastung, sicherlich. Gottseidank gelang Grips-Gründer Volker Ludwig, der das Theater 42 Jahre lang geleitet hat, als Geschäftsführer die Aufstockung der jährlichen Zuwendungen durch den Berliner Senat durchzusetzen, auch wenn uns immer noch strukturell rund 100.000 Euro fehlen. Wir ringen darum, auch jetzt wieder.

„Schöner Wohnen“, die erste von Ihnen verantwortete Inszenierung, floppte, beim Kinderstück „Held Baltus“ überforderten Sie die Zielgruppe der Sechsjährigen, weshalb die Altersschwelle angehoben werden musste. Wie steckt man Fehlschläge weg?

Ein Flop? Wir probieren am Grips ein paar neue Dinge aus. Das Haus ist in einer produktiven Bewegung. Bei „Held Baltus“ war die Idee, die Perspektive von Erwachsenen und Kindern gleichberechtigt nebeneinander zu zeigen, womit wir manche Sechsjährigen teilweise überfordert haben. Es ist trotzdem ein tolles Stück, es war für den Deutschen Kindertheaterpreis nominiert. Und wir ­haben es 40 Mal vor voller Hütte gespielt.

Das Grips steht für Kabaretthumor und Typendramatik – Sie setzen auf neue, jüngere Regiehandschriften und Formate. Diese ästhetische Neuausrichtung stößt im Haus auf Kritik, wie man hört. Wollen Sie zu viel und zu schnell verändern?

Auseinandersetzung ist notwendig bei einem Generationswechsel – wie viel Neuausrichtung wollen wir? Dieser Streit ist bei uns immer ein Inhaltlicher. Es geht nicht um Machtbefugnisse und Eitelkeiten, es geht um das Tempo von Veränderung, um Handschriften, Texte, Regisseure. Viele loben die Neuerungen als wichtige Erweiterungen des Grips-Horizonts. Andere empfinden es als zu weit entfernt, von dem, was sie unter Grips Theater verstehen.

Zum Beispiel Volker Ludwig?

Ja, manchmal. Ich erlebe viel Unterstützung und genau so viel Kritik, das ist in Ordnung, besonders an diesem Haus, wo alle Bundestrainer sind. Ein bisschen Streit ist doch normal beim ersten Leitungswechsel in der Grips-Geschichte.

Im Fußball heißt es: Never change a winning team. Warum muss eine Ästhetik, die im Kindertheater weltweit Maßstäbe gesetzt hat, eigentlich erneuert werden?

Ich will Alt und Neu gar nicht auseinanderdividieren. Wir spielen „Linie 1“ und „Pünkt­chen trifft Anton“ genauso erfolgreich wie „Durst“ und „Die besseren Wälder“, Stücke, die eine andere Ästhetik und Erzählweise haben. Grips ist kein Stil sondern eine Haltung. Es geht immer um relevante Themen, um emanzipatorisches, zeitgenössisches Theater. In der Ästhetik und den Erzählweisen müssen wir offen sein, wenn wir den Anspruch haben, uns am Lebensgefühl von verschiedenen Kulturen, Schichten und Generationen abarbeiten zu wollen.

Sie nennen das behutsame Erneuerung.

Ja, den Kern erhalten – und junge Leute, andere Regiesprachen, dazu holen, wenn sie inhaltlich passen. Wenn eine spannende Regisseurin wie die im Iran geborene Mina Salehpour auf einen Text von Lutz Hübner trifft, der mit boulevardeskem Blick einen deutsch-indischen Culture-Clash beschreibt, dann kann aus dieser Reibung ein spannendes Jugendstück entstehen. Oder wenn Yüksel Yolcu, ein wunderbar wilder Regisseur, in dieser Spielzeit das erste Kinderstück von Volker Ludwig seit zwölf Jahren inszenieren wird. Ich bin sehr für Reibung! Aufregende junge Autoren und Regisseure sollen sich mit dem lebensweltlichen Konzept des Grips Theaters auseinandersetzen.

Die von einigen als Kulturbruch empfundene Neuausrichtung reibt sich ja nicht in der Relevanz der Themen, sondern an dieser neuen Art des Erzählens. Wenn etwa in „Kebab Connection“ zum Happy End ohne einen ironischen Bruch wie im klassischen Märchenende geheiratet wird – das ist schon etwas Neues.

Für mich besteht die Ironie darin, dass am Schluss mittels Tanz und diversen Tableaus erzählt wird, wie alles gut wird. Das ist bewusst übertrieben, außerdem wollten Fatih Akin, Autor von „Kebab Connection“, und Regisseur Anno Saul eine interkulturelle Liebeskomödie erzählen. Das ist brisant, weil über Deutsche und Ausländer sonst immer Problemgeschichten erzählt werden. Hier wird die Geschichte eines Gelingens erzählt.

Unter Ihrer Leitung baut das Grips den Erwachsenenspielplan aus, mit „Frau Müller muss weg“ hat das erfolgreich funktioniert. „Kebab Connection“ war dabei jedoch eher eine Mogelpackung, das Stück ist durchaus bereits für Zwölfjährige geeignet. Wie schwer ist es, ein erwachsenes Grips Theater zu machen?

Die Geschichte ist so sehr ein Jugendstück wie „Romeo und Julia“ eines ist. Der dem Stück zugrunde liegende Film war ein Erwachsenenfilm, wir haben es daher für den Erwachsenenspielplan angesetzt. Doch weil die Jugendlichen und die Schulklassen derart auf den Humor und den Stoff abfahren, spielen wir es inzwischen auch vormittags.

Weil es als ein postmigrantisches Stück die Lebenswelt vieler Jugendlicher trifft?

Ja, es kommen seitdem mehr türkische und arabischstämmige Zuschauer ins Grips Theater. Weil die das großartig finden – und das macht sonst in Berlin so konsequent bisher nur das Ballhaus Naunynstraße –, dass ein Theater sagt, wir erzählen von euch nicht als problembehaftete Fälle, sondern über das Zusammenleben, das Spaß machen kann.

Stichwort Generationswechsel: Ist die aktuelle Premiere „Die letzte Kommune“ (Kritik, s. Seite 81), über einen APO-Opa und die ­Generation seiner Kinder und Enkelkinder eine Art satirischer Kommentar darauf?

Nein, dass das Thema auch was mit der Grips-Geschichte zu tun hat, ist nur ein Nebenaspekt.  Das Stück ist nicht deswegen im Spielplan. Es geht darum, dass viele Menschen sich fragen: Wie möchte ich im Alter leben? Genauso fragen junge Menschen sich, wie sie leben möchten, jenseits der Kleinfamilienmodelle. In dem Stück wird die Utopie verhandelt, wie es wäre, wenn man generationsübergreifend  zusammenlebt. Und dazwischen wir, die Sandwichgeneration, die alles versucht auszuhalten, zu moderieren und manchmal dazwischen zerquetscht wird.

Das klingt jetzt doch wie ein Seufzer.

Wir können doch nur humorvoll mit dem Generationswechsel umgehen, der einige Abgründe und Tiefen hat. Dieser Wechsel am Grips ist ohne Beispiel in der mir bekannten Theatergeschichte. Wir sagen, wir wollen behutsam erneuern und trotzdem das Haus weiterentwickeln.

Sie haben sich sogar den Kassenschlager des Grips vorgenommen und überarbeitet. Haben Sie je daran gedacht, „Linie 1“ abzusetzen?

Ich wäre ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich die absetzen würde! Mir war wichtig, und deshalb sind wir noch mal vier Wochen an das Musical rangegangen, den Inhalt immer wieder hervorzuholen. Es geht um eine starke Geschichte, die die Menschen seit über 1.500 Vorstellungen berührt. Sie lachen und applaudieren so intensiv, dass man als Schauspieler verführt sein kann, dem Affen noch mehr Zucker zu geben. Wir haben uns gemeinsam an den Grund erinnert, warum wir diese Geschichte erzählen.

Was hier am Haus geschieht, wird weltweit unter dem Stichwort „New Grips“ verfolgt.

Ja, es gibt viele internationale Connections – Indien, Brasilien, Pakistan – die auch schon vor diesem Generationswechsel stehen. Die Gründergeneration, die ein politisch relevantes Kinder- und Jugendtheater aufgebaut hat, sucht sich ihre Nachfolger. Die gucken sehr genau hin, was wir hier an neuen Entwicklungen erproben. Neues aufnehmen, mit eigenen Traditionen vermischen und daraus etwas ganz Eigenes erwachsen lassen – das ist wie die brasilianische Kulturtechnik des „kulturellen Kannibalismus“ oder wie man es hierzulande eher kennt: These, Antithese, Synthese. Ein ­lebendiges Theater ist gar nicht anders möglich, finde ich.