Wald für alle

Berlins Forstgebiete neu entdeckt

20 Prozent der Stadtfläche: Berlin besitzt so viel Wald wie kaum eine andere Metropole auf der Welt. Grunewald, Bucher Forst, Plänterwald uvm.
Er bietet mehr Nutzen, als den meisten bewusst ist – und auch einige Gefahren

Die gute Nachricht zuerst. Das Waldsterben ist ausgeblieben. Und der Berliner Wald lebt nicht nur, er wächst sogar. Eine Million neue Laubbäume werden in den nächsten Jahren gepflanzt. Und auch die Nutzung nimmt zu. Auf 300 Millionen ­Besuche kommen die Berliner Wälder im Jahr, schätzt die Forstverwaltung. Im Schnitt gehen Berliner jeden dritten Tag in den Wald.

Wohl kein Volk hat so ein inniges Verhältnis zum Wald wie die Deutschen. Insbesondere die Künstler der Romantik beschrieben und verklärten ihn als Sehnsuchtsort, als Keimzelle der Nation. Auf jedem in Deutschland geprägten Cent prangt die ­Eiche, viele deutsche Märchen spielen im Wald, und nur im deutschsprachigen Raum sorgte man sich in den 80er-Jahren um das Waldsterben. Der Wald steht für das Leben, aber auch für die Gefahr, sein Leben zu verlieren. „Für ein Volk, von dem große Teile auf den Weg zur Verstädterung gezwungen sind, ist der Wald ein Stück Schicksalsfrage geworden“, sagte der erste Bundespräsident Theodor Heuss.

Im bekanntesten Wald der Stadt, dem Grunewald: Nur wenige Spaziergänger sind unterwegs, den gesamten Vormittag hat es geregnet. Das Wasser tropft noch vom Blätterdach, die Luftfeuchtigkeit legt einen Weichzeichner-Filter über die ­Collage aus tausenden verschiedenen Grün- und Brauntönen. Die Wurzeln sind rutschig, das Laub knirscht und schmatzt unter den Schuhsohlen von Marc Franusch.

»Ich habe in etwa so viele Lebewesen in der Hand wie es Menschen auf der Erde gibt – sechs Milliarden«
Marc Franusch, Berlins Landesförster

Der Berliner Förster ist für die grüne Seele der Stadt verantwortlich. Er kennt die Forste wie kein anderer und ist dennoch immer wieder fasziniert. Franusch bückt sich, schiebt etwas Laub zur Seite, greift sich eine Handvoll Erde und zeigt sie wie einen Schatz. „Ich habe in etwa so viele Lebewesen in der Hand wie es Menschen auf der Erde gibt – sechs Milliarden“, sagt er. Jeder Organismus, und sei er noch so klein, hat hier eine Aufgabe. „Bis heute ist der Wald für die Wissenschaft ein Rätsel geblieben. Wir begreifen die Zusammenhänge zwischen Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen nur rudimentär“, sagt Franusch. Auch auf die Frage, wie viele Bäume in Berlin wachsen, gibt es keine konkrete Antwort: „Es sind hunderte Millionen.“

Fast 20 Prozent der Stadtfläche sind Wald, zudem besitzt Berlin große Waldflächen im Umland. Eine Besonderheit, vielleicht einmalig für eine Millionenstadt. Dieser hohe Waldbestand ist kein Zufall, sondern auf Proteste der Berliner Bevölkerung zurückzuführen. 30.000 Unterschriften kamen 1904 für den Erhalt des Grunewaldes zusammen. Es war eine der ersten Umweltbewegungen Deutschlands. Um die Vernichtung der Berliner Forste durch Spekulanten zu stoppen, unterschrieb der „Zweckverband Groß-Berlin“ am 27. März 1915 einen Dauerwaldvertrag. 10.000 Hektar gingen für 50 Millionen Goldmark vom Preußischen Staat an die Großgemeinde Berlin. Der Vertrag gilt im Großen und Ganzen bis heute und garantiert den Erhalt und die Pflege des Waldes. 28 Revierförster widmen sich dieser Aufgabe. Sie begutachten, pflanzen und schützen die Bäume. Die Forstwirtschaft gilt als Urheber des Umweltschutzes. Der Begriff Nachhaltigkeit kommt aus dem Wald und feiert exakt in diesem Jahr sein 300-jähriges Bestehen. Das Wort besagt: Es darf nur so viel Holz gefällt werden, wie nachwachsen kann.

Dem Berliner Wald ging es aber nicht immer so gut wie heute. Als die Stadt in Schutt und Asche lag, die Menschen hungerten und West-Berlin 1948 durch die ­Sowjetunion abgeriegelt wurde, ver­schwand er fast komplett. „In Berlin sind viele Bäume jünger als 60 Jahre“, sagt Marc Franusch. „Selbst Baumstümpfe wurden zu Brennholz, der Grunewald sah aus wie ein Acker.“ Bis ein neuer Wald heranwächst, dauert es Jahrzehnte. Um den Prozess zu beschleunigen, setzten die Forstwirte auf die Kiefer. Auch für die Holzverarbeitung hat sie wegen ihres geraden Wuchses Vorteile. Doch spätestens seit den 70er-Jahren dient der Berliner Wald in erster Linie der Erholung, nicht der Holzgewinnung. Kiefernwald soll daher in Mischwald umgewandelt werden. Ein Mischwald produziert mehr Sauerstoff, reinigt die Luft besser, speichert mehr Grundwasser, reduziert im Sommer die Temperatur um etwa drei Grad und dient einer größeren Vielzahl an Tieren als Lebensraum. Das Mischwaldprogramm ist eine wichtige Aufgabe geworden – für Generationen. Der Eiche kommt dabei eine Sonderbehandlung zu, denn in Zukunft soll es auch wieder Eichenwälder geben, wie vor 1.000 Jahren, als Berlin noch gar nicht existierte.

Nachts im Wald: Ein dichtes Blätterdach sperrt das Licht aus, hinter der Mauer aus Finsterheit könnte sich alles verbergen. Ein Rascheln im Gebüsch, ein Knacken – und schon beschleunigt sich der Herzschlag, steigen archaische Ängste auf. Die Geräusche lassen sich nicht zuordnen. Dazu kommt die fehlende Orientierung. Wer beim abendlichen Weg in den Wald nicht gut aufgepasst hat, findet nachts nicht mehr so leicht hinaus. Viele Menschen nehmen gern einen Umweg in Kauf, um nachts nicht durch den Wald gehen zu müssen. Der Wald steht für die Wildnis, die ungezähmte Natur. Ein Chaos, das wir nicht kontrollieren können. Wir haben Angst, überfallen zu werden, dabei sind Straftaten im Wald äußerst selten. Wir haben Angst,  beim Wandern von einer Gruppe zurückgelassen zu werden. Wer einige Meter hinter ihr bleibt, wird schleunigst versuchen wieder Anschluss zu finden. Diese Ängste haben wir von unseren Vorfahren geerbt. Damals waren Überfälle keine Seltenheit, und auch Tiere stellten eine echte Gefahr da.

Nyctohylophobie nennt sich die Angst vor dem dunklen Wald in der Psychologie. Marc Franusch sagt: „Ich empfehle jedem, einmal im Dunklen in den Wald zu gehen und sich seinen Ängsten zu stellen“. Die größte Gefahr gehe von Wurzeln aus, über die man stolpern könne. Tiere seien an den Menschen gewöhnt, gerade in Berlin. Wenn es zu Konflikten mit Wildschweinen käme, dann fast immer in Kombination mit einem Hund. „Wildschweine werden nur zur Gefahr, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlen“, sagt der Förster. Gefährlich, egal ob am Tag oder in der Nacht, kann ein Wald bei Sturm werden oder einige Tage danach, durch herabfallende Äste. „Wir kontrollieren die Wege, dennoch warnen wir dann vor dem Betreten der Forste“, sagt Franusch.

Der Wald ist vom Ort der Gefahr zum Freizeitort geworden. Am Grunewaldsee lassen hunderte Hundebesitzer ihre Lieblinge frei laufen. Ein paar Meter weiter ziehen Jogger und Nordic Walker schnaufend ihre Bahnen. Waldboden ist trittfest, aber federt gut, die Feinstaubbelastung ist geringer und der Sauerstoffgehalt höher als in der Stadt. Irgendwo läuft sicher auch jemand gerade mit einem GPS-Gerät suchend umher und betreibt Geocaching, eine moderne Variante der Schnitzeljagd.

Berliner Wald

Fläche: 29.000 Hektar
Besucher pro Jahr: 300 Millionen
Förster: 28
Säugetierarten: 50
Pflanzenarten: Über 1.000
Vogelarten: 40-50
Seltenste Tierart: Seeadler (4 Stück)

Die Zahl der Menschen, die in den Wald gehen, nimmt stetig zu. Vereinzelt sogar für eine längere Zeit: „Wir entdecken immer wieder Menschen, die im Wald übernachten“, sagt Marc Franusch. Das sei zwar verboten, aber in Einzelfällen drücke man ein Auge zu. Ein besonderer Fall war Konrad Seeger, der für viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, im Grunewald lebte. Die Förster duldeten ihn. Er hatte es sich mit einem Zelt an einer Lichtung gemütlich gemacht und wollte nicht zurück in die städ­tische Zivilisation. Hilfsangebote lehnte er ab, obwohl er an Krebs erkrankte. Anfang 2012 verstarb der Obdachlose. Der ­„Tagesspiegel“ zitierte ihn in einem Nachruf mit den Worten: „Ich halt’ es nicht aus in einem geschlossenen Raum. Ich brauch’ meinen Wald.“

Insgeheim geht es vielen wie Konrad Seeger, sie sehnen sich nach dem Wald, einem Ort, der beschützt und Frieden bringt. „Wenn deine Seele krank ist, dann verbirg dich wie ein verwundetes Tier in den Wäldern: sie werden dich heilen“, schrieb der Schriftsteller Siegfried von Vegesack Ende des 19. Jahrhunderts. Eine japanische Studie hat die gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes kürzlich bestätigt. Ein Spaziergang im Wald senkt den Blutdruck, reduziert Stresshormone und beugt Krebs vor. Die Wissenschaftler führten das unter anderem auf Phytonzide zurück, einem Wirkstoff, der Pflanzen vor Schädlingen schützen soll und durch die Waldluft schwebt. Beruhigend zu wissen, dass sich dieser heilsame Ort gleich vor unserer Haustür befindet.

Es liegt immer im Auge des Betrachtes. Zitty stellt Euch die verschiedenen Waldtypen vor:

die Aktiven

die Feinschmecker

die Tierfreunde

der Familienmensch