Wieder was gelernt

Emotionales Deja-Vu

Thomas Winkler weiß: Kaum ist der Nachwuchs halbwegs in der Lage, irgendwas Krakeliges auf ein Blatt zu malen, glaubt das stolze Elterntier: Mein Kind ist hochbegabt.

Man kennt das ja. Kaum ist der Nachwuchs halbwegs in der Lage,  irgendwas Krakeliges auf ein Blatt zu malen, glaubt das stolze Elterntier: Mein Kind ist hochbegabt. Wenn es das erste Mal „Auto“ brabbelt, denkt man: Literaturnobelpreis. Und in dem Moment, in dem drei Legosteine zum wackligen Turm zusammengesteckt wurden, scheint eine glorreiche Karriere als Architekt vorherbestimmt.

Allen frischgebackenen Eltern sei hiermit ein Geheimnis verraten: Schon beim zweiten Kind sieht man das lockerer. Die armen Nachzügler präsentieren ihre expressionistischen Farbexplosionen und gewagten Gebäudeensembles zwar ebenso stolz wie die in diesem Fall glücklicheren Erstgeborenen, ernten aber statt begeistertem Jubel bloß noch ein nüchternes: „Das ist ja toll! Malst Du mir noch ein Bild? Da freut sich die Mama!“ Man kann jedem Kind nur wünschen, dass seine Eltern wenigstens begabte Schauspieler sind.

Man sieht also, ich weiß noch sehr genau, wie das damals war. Ich bin zwar Opa, aber noch nicht so vergesslich. Allerdings: Als das Enkelkind kürzlich etwas blubberte, das in meinen Ohren ungefähr so klang wie „Ahehohahe“, quiekte die Mutter, also meine Tochter: „Habt Ihr das gehört? Sie hat ­‚Apfelschorle‘ gesagt!“ Das Enkelkind guckte zufrieden, vor allem, nachdem man ihr unverzüglich ein großes Glas Apfelschorle kredenzt hatte.

In diesem Moment stieg, obwohl ich es besser wusste, wieder dieses längst vergessene Gefühl in mir auf: Der Stolz, dass der eigene Nachwuchs etwas Besonderes sein muss. Ob es zum Büchnerpreis reicht, wird man sehen. Aber meine, ja meine Enkeltochter war clever genug, ihrer Mutter vorzugaukeln, sie könne vor der Zeit zusammengesetzte Wörter bilden. Aus der wird mal was, in der Politik zum Beispiel.  Thomas Winkler