Organisierte Kriminalität

Allein gegen die Mafia

Die Organisierte Kriminalität erreicht die bürgerlichen Kieze. Die Schießerei am Olivaer Platz in Wilmersdorf ist ein neuer Höhepunkt. Die Polizei wirkt hilflos. Gegen Familienbanden tut sie sich besonders schwer
Text: Rico Grimm

Olivaer Platz, Schiesserei am 29.7.2015 Foto: Petra Konschak
Olivaer Platz, Schiesserei am 29.7.2015 Foto: Petra Konschak

Die Schüsse fallen gegen 21 Uhr. Aus einem dunklen Geländewagen schießt jemand auf zwei Männer, die am Olivaer Platz in Wilmersdorf vor einem Café stehen. Einer schießt zurück und trifft eine 63 Jahre alte Passantin, die an der Ampel wartet, ins Knie. Tage später finden sich noch fünf Einschusslöcher an der Hauswand neben dem Café. Die ­Ermittler gehen von einem Kampf zwischen albanischen und arabischen Banden aus, es soll um zwei Spielkasinos in der Lietzenburger Straße gehen. Die Organisierte Kriminalität hat die bürgerlichen Kieze erreicht.

Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) gibt sofort zu Protokoll, dass die Berliner Polizei „kein Wildwest zulassen“ werde. Doch tatsächlich steht die Berliner Polizei kriminellen Machenschaften vielfach hilflos gegenüber. Seit Jahren gibt es ein Katz- und Maus-Spiel, bei dem Geld illegal verdient und gewaschen wird, ­Anklagen erhoben und fallen gelassen werden. Der Vorfall am Olivaer Platz ist nur ein Fall von vielen.

Die Täter sind immer noch unbekannt. Ein Nummernschild mit „PR“ für Prignitz, ein Zigarettenstummel des vermeintlichen Täters und jede Menge Gerüchte über das Interesse albanischer Banden an Lokalen in dem Revier, in dem bislang arabische Clans das Sagen hatten. Die Arbeit der Polizei steht am Anfang. Ermittlungen gegen Clans sind besonders schwierig.

Die Einschusslöcher am Olivaer Platz sind immer noch zu sehen (linke Seite). Die Polizei bittet unterdessen ­Anwohner, sie sollen Fensterrahmen und Hauswände nach weiteren Schussbeschädigungen untersuchen Foto: Petra Konschak

Die Einschusslöcher am Olivaer Platz sind immer noch zu sehen (linke Seite). Die Polizei bittet unterdessen ­Anwohner, sie sollen Fensterrahmen und Hauswände nach weiteren Schussbeschädigungen untersuchen Foto: Petra Konschak

Über die albanischen Banden ist wenig bekannt, bei arabischen Clans gibt es mehr Informationen, die Ermittlungen bleiben mühsam. Das Berliner Landeskriminalamt geht von 30 kriminellen arabischen Clans aus. In zehn Komplexen im Bereich der Organisierten Kriminalität laufen aktuell Ermittlungen. Viele der Clans haben Wurzeln im Libanon und Palästina. Zu einer „Familie“ können 25 bis 500 Menschen gehören. Die Gruppenbindung beruht auf diesem sehr weiträumig ausgelegten Familienbegriff. Der Abou-Chaker-Clan, der bekannteste unter ihnen, hat palästinensisch-libanesische Wurzeln und soll gut 300 Mitglieder umfassen. 2010 plante ein Familienmitglied den Raubüberfall auf ein Pokerturnier am Alexanderplatz. Drei Jahre später wurde bekannt, dass ein anderer Abou-Chaker sehr enge Verbindungen zu Rapper Bushido haben soll. In dessen Musikvideo taucht wiederum jener Rocker auf, dem vorgeworfen wird, den Mord an Tahir Özbek in einem Café in Reinickendorf in Auftrag gegeben zu haben.

Dirk Jacob, der Leiter des zuständigen Dezernats beim LKA, sagte zuletzt bei einem Auftritt im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses, dass 60 Prozent der Straftaten organisierter Banden im Rauschgifthandel,  Diebstahl und Einbruch zu verorten seien. Was Jacob damals nicht explizit sagte: Berlin kommt in Deutschland eine kleine Sonderstellung zu. Zwar wohnt nur jeder 24. Deutsche in der Hauptstadt, aber jedes zehnte Verfahren im Bereich der Organisierten Kriminalität findet hier statt. Rund 50 sind es jedes Jahr.

Eine Familie kann man nicht verlassen

Ein paar Wochen nach seinem Auftritt im Abgeordnetenhaus empfängt Dirk Jacob in seinem schmucklosen Büro am Tempelhofer Damm. Er trägt Jeans und Hemd, als kleiner Luxus steht in einer Ecke seine eigene Kaffeemaschine. Dann sagt er den Satz, den wir nicht von Kripo-Beamten erwarten, sondern von Philosophen. „Organisierte Kriminalität tritt nur phänomenologisch in Erscheinung.“ Will heißen: Sie ist Definitionssache, sie entsteht erst im Auge des Betrachters. Wenn mehr als zwei Menschen zusammenwirken und mit Gewalt oder anderen Zwangsmitteln gewerbliche Strukturen ausnutzen, um einen Gewinn zu erzielen, dann ist es Organisierte Kriminalität. Ermittler denken deswegen niemals in Straftaten, sondern in „Komplexen“. Da ist immer eine Bande unterwegs, die möglichst auch gemeinsam hochgenommen werden soll.

Um an die Hintermänner heranzukommen werten die Polizisten Handlungsmuster aus. Manchmal gibt es Tipps von Konkurrenten, die sich wünschen, dass die Polizei ihre Drecksarbeit erledigt oder ein verzweifelter Junkie ärgert sich über schlechte Ware und weiß vielleicht auch einmal etwas und schließlich gibt es  Kronzeugen. Der so genannte „Rocker-Prozess“, der gerade vor der 15. Berliner Schwurgerichtskammer geführt wird, basiert maßgeblich auf den Aussagen eines solchen Kronzeugen. Er war dabei als im vergangenen Jahr Tahir Özbek mit sechs Schüssen hingerichtet wurde.

Der Tatort: Das Auto kam von rechts, die Insassen schossen auf zwei Männer, die vor einem Café standen. Einer schoss zurück auf das Auto, das nach links in Richtung Lietzenburger Straße fuhr. Eine Passantin wurde verletzt Foto: Petra Konschak
Der Tatort: Das Auto kam von rechts, die Insassen schossen auf zwei Männer, die vor einem Café standen. Einer schoss zurück auf das Auto, das nach links in Richtung Lietzenburger Straße fuhr. Eine Passantin wurde verletzt Foto: Petra Konschak

Bei den Rockern, von denen es in Berlin gut 1.000 geben soll, sei es vergleichsweise einfach Informationen zu sammeln, sagt LKA-Mann Jacob. „Aber wie bekommen Sie jemanden herausgebrochen aus einer Familie? Eine Familie kann man nicht verlassen.“ Komme es in der Szene zu Streitigkeiten würden die ohne die Polizei geregelt werden, so Jacob gegenüber dem Innenauschuss im Abgeordnetenhaus. Die Clans würden dann Friedensrichter und Streitrichter einschalten.

Interessant ist auch, dass Jacob keine klaren Tätigkeitsgrenzen zwischen den Gruppen erkennen kann. Aussagen, nach denen sich die eine Gruppe um jenes kriminelle Gebiet, die andere um dieses kümmert, passen also nicht. Wenn überhaupt lassen sie sich örtlich abgrenzen. Sie sind in „ihren Siedlungsbereichen tätig, dort, wo sie sich wohl fühlen und auskennen“, sagt Jacob.

Aber es gibt für die Bürger Möglichkeiten, sich zu wehren. Im Dezember 2007 bekamen mehrere Dutzend italienische Gastronomen in Berlin einen Brief zugeschickt. Darin stand: „Wir sind eine Genossenschaft der Fürsorge mit zehnjähriger Erfahrung, ­daher erlauben wir uns, dieses Schreiben zu unterbreiten; Wir garantieren Ihnen Sicherheit für Sie und Ihre Familie. Eine Versicherungspolice, die wir Ihnen raten, nicht abzulehnen… Jeden Monat kommen unsere Beauftragten vorbei, die sich im Namen Ihres Heiligen Beschützers vorstellen werden. Den Sie mit einer spontanen Spende preisen sollten.“ Es war ein Erpresserbrief der Camorra, der italienischen Mafia. Die Gastronomen taten etwas, womit die Erpresser nicht gerechnet hatten: Sie gingen geschlossen zur Polizei und sicherten sich deren Unterstützung. Und mehr noch: Die Aktion gab den Anstoß für die Gründung eines Vereins, der bis heute aktiv ist in der Hauptstadt. Er heißt „Mafia, nein Danke!“

Hilfe durch Anti-Mafia-Vereine

Der Verein will der italienischen Mafia in Berlin und anderen Städten Deutschlands den Boden entziehen. 85 Mitglieder hat der Verein. Luigino Giustozzi ist einer der Gründer: „Uns geht es darum, dass Thema Organisierte Kriminalität in der öffentlichen Diskussion zu verankern“. Die Sensibilität sei in den 1990er-Jahren schon einmal größer gewesen. Dann kam der islamistische Terror und mit ihm eine „Verlagerung der Ermittlungskapazitäten.“ Dafür lädt der Verein immer wieder Gäste aus Italien zu Diskussions- und Filmabenden, es gibt spezielle Abende zum „Mafia und Frauen“ und kürzlich hat auch der in Italien bekannte Soziologie-Professor Nando dalla Chiesa in Berlin Vorlesungen zur Mafia gegeben.

Der Ansatz von „Mafia, nein Danke!“ klingt angesichts skrupelloser Gewalttäter wenig vielversprechend, aber er hat ein Vorbild. Auf Sizilien gelang es der Addiopizo-Bewegung, die Mafia zurückzudrängen, indem sie Schutzgeldzahlungen sozial ächtete. „Ein ganzes Volk, das Schutzgeld bezahlt, ist ein Volk ohne Würde“, plakatierten die Initiatoren auf den Straßen der Insel und gewannen schnell Unterstützer. Auch die Berliner Mafiagegner scheinen Fortschritte gemacht zu haben. Denn er habe gehört, sagt Giustozzi, dass die italienische Polizei einmal ein Mafia-Treffen in dem Hinterzimmer einer Wäscherei abhörte, bei dem sich die Paten über zukünftige Geschäftsstandorte unterhielten. Als die Mafiosi über Berlin nachdachten, sagte einer: „Geht besser nicht dorthin, dort ist es zu heiß“. Das sei durchaus auch mit seinem Verein in Verbindung zu bringen, meint Giustozzi. Aber klar ist für ihn auch: „Heiß“ ist es in Berlin auch deswegen, weil es noch so viele andere Player gibt.

Zivilgesellschaftliche Aktionen wie diese sind etwas Besonderes, weil sie etwas ins Licht zerren wollen, was gerne ungesehen bleibt. Organisierte Kriminalität wird dann erst recht tückisch, wenn sie sich zu legalisieren sucht, sich also mit illegal erworbenen Geldern Einfluss und Achtung in der Gesellschaft erkauft. So hatte ein ehemaliger Schwergewichtsboxer und Hells-Angel-Anführer in Hannover Spielplätze errichtet, um seinen Ruf zu verbessern. Organisierte Kriminalität kann die Lokalpolitik in den Strudel ziehen“, sagt LKA-Mann Dirk Jacob. Sein Vorgänger im Amt, Bernd Finger, hatte das gegenüber dem „SZ-Magazin“ so beschrieben: „Man glaubt es kaum, aber es gibt viele Politiker, die diese Gänsehaut der Berührung mit einem kriminellen Milieu einfach mal erfahren wollen. Sie geraten dann ungeheuer in Gefahr, von der kriminellen Seite vereinnahmt zu werden.“ Bei Bau- oder Gewerbegenehmigungen sei ein Einfluss denkbar, sagt Jacob.

Der entscheidende Moment für die Strafverfolgung ist der Moment, wo das Geld gewaschen wird – und die illegale Herkunft somit unkenntlich gemacht wird. Wettbüros und Spätkäufe sind die Klassiker. Die Banden nutzen aber immer perfidere Methoden. So gab es in Neukölln einmal einen Buntmetall-Tycoon, der nicht wusste, dass er zu den größten Schrotthändlern der Stadt gehörte. Manchmal kreuzten neugierige Polizisten bei ihm auf und fragten ihn aus, aber zwischen dem einen Vollrausch und dem anderen konnte er sich an nichts mehr erinnern. Schon gar nicht daran, wie er so eine große Nummer im Schrottgeschäft geworden war. Geld hatte er auf jeden Fall keines.

Diese Geschichte erzählt Karl-Heinz Gärtner bei einem Kaffee am Hermannplatz. Er illustriert damit, wie die Banden vorgehen, wenn sie Geld waschen wollen, das sie mit illegalen Geschäften verdient haben. Denn der vermeintliche Neuköllner Schrotthändler war nur ein alkoholkranker, armer Kerl. Die Banden hatten das ausgenutzt und auf seinen Namen Rechnungen über Schrottankäufe ausgestellt, die natürlich niemals bezahlt wurden, aber durch die gleichzeitig erhobene Mehrwertsteuer das perfekte Schlupfloch für ein paar Tausender waren.

Gärtner war Jahrzehnte lang Polizist in Neukölln. Vor seiner Pensionierung war er der „Einheit zur Bekämpfung der Straßenkriminalität“ zugeordnet. Nach seiner Pensionierung fing er an, Bücher über seinen ­alten Beruf zu schreiben. Mit organisierter Kriminalität kam er während seines Berufslebens immer wieder in Berührung, vor allem natürlich mit dem Drogenhandel. „Das ist Organisierte Kriminalität“, sagt er. „Wer etwas anderes behauptet, ist ein Naivling.“

Letztlich aber, und da sind sich Gärtner, Giustozzi und Jacob einig, müsse der Bundestag neue, griffigere Gesetze erlassen, um die Mafia, die Rocker und die Clans wirkungsvoll bekämpfen zu können. Vor allem ein Gesetz wollen die drei unbedingt sehen: die Beweislastumkehr. Die Kriminellen, die fast alle Hartz-IV-Empfänger sind, sollen nachweisen, woher sie das Geld haben, um sich Staranwälte, große Anwesen und Autos zu leisten. Mit so einem Gesetz, so argumentieren die Ermittler, könnte man den Mafiosi das nehmen, was sie am meisten schätzen: ihr Geld.

Dass gezielte Reformen wirken können, zeigte sich bei dem alkoholkranken Strohmann aus Neukölln, der zum Schrotthändler aufgestiegen war. Nach einer Reform des Steuergesetzes oblag es plötzlich ihm, die Steuer aus seinen nicht existierenden Schrottgeschäften abzuführen. Das passte den Verkäufern gar nicht. Ein kleiner Kniff reichte und ein großes Schlupfloch  war geschlossen.