Berlin? Kenn ich nicht

Die große zitty- Bundestagsumfrage

15 Jahre sind seit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin vergangen, angekommen sind die meisten Parlamentarier noch nicht. Sie leben in einer Blase mit nur trübem Blick auf das andere Berlin, über das sie doch so regelmäßig entscheiden. Um herauszufinden, wie weit diese zwei Welten voneinander entfernt sind, haben wir uns der Spezies Abgeordnete mit Interviews und einer Umfrage angenähert und fast 90 von ihnen erwischt

Text: Michael Sellger, Auswertung: Martin Schwarzbeck

Um vier Uhr fährt der Dienstwagen vor, um ihn zum Flughafen zu bringen, von dort aus geht’s heim nach Baden-Baden, der Wahlkreis ruft. Kai Whittaker bleiben 20 Minuten für einen Spaziergang: von seinem Bundestagsbüro zum Spreeufer, am Reichstag entlang, an Polizeikontrollen vorbei. Im Plenarsaal hat er am Vormittag auf einen Antrag der Linkspartei geantwortet, es war seine zweite Rede. „Neun Minuten“, sagt er mit dem Stolz eines Kindes, das unter Wasser sehr lange die Luft angehalten hat.

Die Verteilung der Teilnehmenden

Am Ufer, wo Männer in Anthrazit-Anzügen und Frauen in Merkel-Uniform mit ihren Dienstausweisen am Gürtel defilieren, blickt der Christdemokrat auf die vorbeiziehenden Touristenschiffe. Whittaker ist 29 Jahre alt, er zählt zu den jüngsten Abgeordneten des Bundestages und ist seit der Wahl im September vergangenen Jahres nicht mehr nur Bade, sondern auch Berliner. Seine Stadt ist nicht die der meisten Berliner in seinem Alter, in einem Spätkauf war er nur mal, um sich Zahnpasta zu kaufen, er grillte noch nie im Görli, trank nie ein Bier an der Spree und radelte auch nie über das Tempelhofer Feld, gleichwohl er das Ergebnis der Volksabstimmung gegen dessen Bebauung prozentgenau aufsagen kann. Am Berghain ist er mal vorbeigefahren, „ich weiß aber, was das für eine Disco ist“, sagt er.

9,3% aller Abgeordneten des Bundestags bestanden die Einlasskontrolle von Sven Marquardt

Dafür war er schon auf dem Kurfürstendamm, im Tiergarten und im Cafe Einstein. Dem anderen Berlin, dem rings ums Regierungsviertel, in der Blase, die die meisten Berliner selten betreten. Whittakers Fachgebiet ist Arbeit und Soziales, er weiß, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit in der Hauptstadt ist, war aber noch nie in Neukölln oder Marzahn. Whittaker sagt, er habe noch keine Zeit gehabt, die Stadt privat zu erkunden, meist arbeite er bis in den späten Abend und sei ansonsten hin- und hergerissen zwischen der parlamentarischen Arbeit in Berlin und dem Wahlkreis, wo er auf Vereinsfesten, Ehrungen und Parteiveranstaltungen präsent sein soll.

Immerhin waren fast alle Abeordneten schon mal auf dem Kurfürstendamm

Ständig in der Hauptstadt und trotzdem selten in Berlin: Es geht vielen Abgeordneten so wie Whittaker, gleich, wie alt sie sind oder welcher Partei sie angehören. Schon in Bonn nannte man den Bundestag zuweilen Raumschiff, weil seine Mitglieder abgeschlossen waren vom Alltag der Regierten, zumal in einem Regierungsviertel, das sich selbst genügte und kaum in Beziehung zur Außenwelt stand. 1999, ein Drei-vierteljahr nach dem Ende der Ära Kohl, zog das Parlament vom Rhein an die Spree, vom Westen in den Osten. Aus der Bonner wurde eine Berliner Republik, in der vieles besser werden sollte: Integriert statt isoliert, Auge in Auge mit einer metamorphosierenden Metropole.

15 Jahre nach dem Umzug haben wir alle 631 Mitglieder des Parlamentes nach ihrem Leben in Berlin befragt, wollten wissen, was sie an der Stadt mögen, was sie nervt, ob sie sich ein Bleiben über das Mandat hinaus vorstellen können und was ihre Lieblingsorte sind. 89 Abgeordnete haben geantwortet; sie ermöglichen eine Antwort auf die Frage, ob das Raumschiff Bundestag tatsächlich gelandet ist.

Denn mehr noch als in Bonn tragen die Abgeordneten Verantwortung für die Stadt, in der sie arbeiten. Sie entscheiden über viele Großprojekte, die Berlin verändern – sei es die Errichtung des Stadtschlosses, die Verlängerung der A100, der Bau des Flughafens oder die Sanierung der Staatsoper. Auch effektiver Schutz vor explodierenden Mieten kann nur vom Bund kommen. Die Haltung zu leidenschaftlich umstrittenen Themen wie diesen hängt auch davon ab, wie ein Parlamentarier die Stadt erlebt, ob er ihr ambivalentes Wesen erfassen kann oder sich nur in der Blase bewegt, die vom Tiergarten bis zur Schlossbaustelle reicht.

Im Café Einstein ist die Abgeordnetendichte am höchsten

So viel geht aus der Umfrage hervor: Für viele der Befragten ist Berlin sehr klein. Die Lieblingsorte von 60 Prozent der Parlamentarier liegen in einem Radius von weniger als zwei Kilometern, viele mögen den Gendarmenmarkt besonders, den Tiergarten, den Reichstag. Jeder 20. Abgeordnete erklärt den Pariser Platz am Brandenburger Tor, wo man nichts tun kann außer angucken und wieder gehen, zu seinem Lieblingsort. Ein Spaziergang zu diesen Orten führt in ein Berlin zwischen Schinkel und Schiller, wo es schwäbische Feinkost gibt und sächsische Holzwaren, wo immer irgendwo einer Mozarts Nachtmusik spielt und Touristengruppen an wilhelminischem Pomp vorbeilärmen. Ein bisschen ist es das preußische Berlin der Droschken, Leierkästen und Zwirbelbärte, ein unlebendiges und gestriges, das nur noch imitiert wird und in dem es vor allem eines nicht gibt: Berliner. Wer dieses Berlin liebt, der will wieder ein Schloss in seinem Zentrum; dem ist egal, welche Viertel die Autobahn durchschneidet, solange sie es nicht mit seiner historischen Mitte tut.

Diesen verengten Blick könne er keinem Kollegen verübeln, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu. Die Sitzungen und die meisten offiziellen Abendtermine fänden in Mitte statt, wer dann auch noch dort lebe – so wie es 70 Prozent der befragten Parlamentarier tun – bekäme selten ein anderes Berlin zu Gesicht. Viele sind nicht einmal so weit in der Stadt angekommen, dass sie sich eine Wohnung genommen haben, sie leben im Hotel.

Der Wahlkreis Mutlus ist das Regierungs-Berlin, weshalb viele Kollegen sein Gesicht von Plakaten kennen – die Mehrheit der Parlamentarier lebt in seinem Wahlkreis, darunter sämtliche Abgeordnete der CDU und beinahe zwei Drittel der SPD. Die meisten Linken und Grünen wohnen andernorts, etwa in Kreuzberg, wo Mutlu seine Kindheit verbrachte und das er seiner Vielfalt wegen liebt und gegen jene Kollegen verteidigt, die es als Beispiel für gescheiterte Integration betrachten. Ohnehin werde zuweilen von Abgeordneten über Berlin gesprochen, ohne dass diese etwas von den Besonderheiten und Problemen der Stadt begriffen hätten. „Manchmal muss ich das Berlin-Bild von Kollegen zurechtrücken“, sagt er. Immerhin beobachtet Mutlu einen Generationswechsel hin zu mehr Abgeordneten mit Lust auf die Stadt. Dennoch gebe es Parlamentarier, die ihr Mandat schon seit Jahrzehnten innehaben und Bonn weiterhin vermissen.

Der Görlitzer Park: Niemandsland für mehr als 70% der Bundestagsabgeordneten

Thomas Wittke hat 30 Jahre lang für den „Bonner General-Anzeiger“ gearbeitet und erst das Bonner, ab 1999 dann das Berliner Büro geleitet. Als Wittke nach Berlin kam, änderte sich auch für den Journalisten viel: Das Tempo in der Politik habe zugenommen, sagt Wittke, das Verhältnis zu Journalisten sei abstrakter. Heute würden 99 Prozent der Gespräche zwischen Journalisten und Politikern hinter verschlossenen Türen geführt, nur gelegentlich noch in Cafés wie dem viel zitierten Einstein. Wittke sagt, die Berliner Republik sei geprägt von einer „Großmäuligkeit und verkrampften Demonstration von Selbst-bewusstsein“, wie es sie in Bonn nicht gegeben habe. Ein Argument für Berlin sei immer gewesen, das Parlament werde sich mehr um die Hauptstadt und ihre Bürger kümmern. „Nichts davon ist wahr geworden“, sagt Wittke, die Distanz zu den Wählern habe sogar „dramatisch“ zugenommen. Eine Einschätzung, die sich mit der des früheren Vizekanzlers Franz Müntefering (SPD) deckt, der letztes Jahr in einem Gespräch mit der zitty zugab, dass Bundestagsabgeordnete in Berlin weniger integriert seien als etwa türkische Migranten.

Die meisten Abgeordneten des Bundestages haben ihre Wahlkreise in ländlichen Regionen. Sie sind oft Großstädter wider Willen und erst einmal erschlagen vom Trubel Berlins. „Ich bin ein Dorfmensch“, sagt beispielsweise Gustav Herzog von der SPD, Volkmar Vogel von der CDU hält sich für eine „Landpomeranze“ und Kirsten Lühmann, SPD, braucht „die Ruhe, die ich in der Lüneburger Heide habe“. Zu den Nachteilen Berlins befragt, antworten viele Abgeordnete, dass sie den Verkehr nicht mögen und die Baustellen, den Lärm, die Geschwindigkeit – kurz: alles, was eine Großstadt ausmacht.

Sie schätzen hingegen die Prachtstraßen und das Preußenerbe, ihnen gefallen der Kurfürstendamm und im Winter die Weihnachtsbeleuchtung. Es ist das, was in Reiseführern als Berlin gepriesen wird, und das imponiert, wenn der Wahlkreis irgendwo in der Provinz liegt. Sie mögen Berlin besonders dort, wo sich vergessen lässt, dass es Berlin ist: in den Parks und Grünanlagen, wo viel Natur ist und wenig Beton.

Immerhin waren 90% der Berliner Abgeordneten schon auf dem Fernsehturm

Das Berlin von Petra Pau ist größer und reicher, die Verbindung zur Stadt wurde ihr aber auch in die Wiege gelegt. Pau ist geboren in Berlin, aufgewachsen in Lichtenberg, „Toilette halbe Treppe höher, kein Bad, Kohlenheizung“. Ihr Wahlkreis ist Marzahn-Hellersdorf. Am Anfang ihrer parlamentarischen Arbeit saß sie noch im Bundestag in Bonn und lebte dort wie viele Kollegen heute zwischen Appartement und Plenarsaal. Jetzt ist sie zurück daheim. Pau muss nur ein paar Schritte vom Jakob-Kaiser-Haus bis zum Straßenschild der Dorotheenstraße laufen, schon gibt es die erste Ankedote, weil die Dorotheenstraße einst Clara-Zetkin-Straße hieß und auf Druck Helmut Kohls umbenannt wurde, woraufhin die damalige PDS ihren Fraktionssaal der Kommunistin widmete. Pau kann viel von Berlin erzählen, nicht nur vom Regierungsviertel. Ihr Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf: Längst nicht nur Platte! Das Wuhletal: Herrlich! Der Kienberg, ihr Berliner Lieblingsort: Traumhaft! Die Vizepräsidentin des Bundestages versucht sich gelegentlich als Lotsin durch das unbekannte Berlin: „Manchmal“, sagt Pau, „kann ich Kollegen raus nach Marzahn oder Spandau locken.“ Es gebe allerdings auch die, die froh sind, wenn sie endlich wieder aus Berlin nach Hause in den Wahlkreis können. „Jeder ist eben durch seine Herkunft geprägt“, sagt sie etwas hilflos. Damals habe mancher mit der Illusion für den Umzug gestimmt, wenn die Politik in die Hauptstadt mit all ihren sozialen Problemen ziehe, würde sie diese bei künftigen Entscheidungen berücksichtigen. „Aber meine Erfahrung ist, dass man in Berlin genauso wie in Bonn in einem Mikrokosmos leben kann, ohne auf das richtige Leben zu treffen.“

Die 50-Jährige gehört deshalb auch einer Gruppe von Abgeordneten an, die Berliner sind und regelmäßig diskutieren, wie sie in ihren Fraktionen um Verständnis für die besondere Situation der Stadt werben können. Berlin-Versteher, die ihren Kollegen aus Neustrelitz und Döbeln, Andernach und Reutlingen Nachhilfe geben, die offenbar dringend benötigt wird: „Man sollte meinen, dass sich Abgeordnete zumindest die Sachen in Berlin anschauen, wo der Bund mitentscheidet. Ich bin manchmal enttäuscht, dass diese Neugier fehlt.“