Flüchtlinge in Berlin

Inside Tempelhof

Eines der größten deutschen Flüchtlingslager entsteht mitten in Berlin, im Flughafen Tempelhof. Es ist nicht einmal zur Hälfte gefüllt und bereits jetzt gefährlich überlastet  Text: Martin Schwarzbeck   

Ahmed, 42, und Hala, 31, haben kaum geschlafen. Selbst für sie, die das Knattern von Maschinenpistolen gewohnt sind, ist die Berliner Nacht laut, zumindest da, wo sie gelandet sind: in Hangar 1 des Flughafens Tempelhof. Die beiden sind aus Syrien geflohen, weil eine Bombe ihr Haus zerstörte. Letzte Nacht sind sie nach 120 Tagen Flucht angekommen und hoffen, bald wieder weiterzuziehen zu können. „Es ist kein guter Ort“, sagt Ahmed und seine Frau nickt. Sie leben mit 640 Menschen in einem Raum, in einer Einrichtung mit bald über 5.000 Menschen, ohne Rückzugsmöglichkeit, unter katastrophalen hygienischen ­Bedingungen.

Der Flughafen Tempelhof wird zur mit Abstand größten Notunterkunft Berlins, zu einer der größten Deutschlands. Mehr als 5.000 Menschen, solche Lager gab es bis vor wenigen Monaten nicht einmal in den Grenzstaaten der EU. Jetzt entsteht eines mitten in Berlin, dort wo eben noch Stars aufgetreten sind und Menschen gefeiert haben. Eigentlich sollten die Geflüchteten nur ein paar Tage bleiben, bevor sie in reguläre Unterkünfte weiterverteilt werden. Doch dazu müssen sie sich erst einmal vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) registrieren lassen, und das dauert derzeit. Einige leben seit der überstürzten Eröffnung am 26. Oktober hier.

Mehrere 100 Menschen erreichen gerade Berlin pro Tag. Am zwölften November erklärte Bürgermeister Michael Müller, dass man den Flughafen Tempelhof, eines der größten Gebäude der Welt, deshalb komplett „als Großeinrichtung nutzen“ werde. Da waren schon drei von sieben Hangars geöffnet, alle rund 2.300 Schlafplätze belegt. Und obwohl die Einrichtung bereits überlastet ist, werden ab 15. Dezember mindestens weitere 2.700 Menschen dort einziehen, ab 1. Februar sollen sie sogar ihre Registrierung und weitere Behördengänge vor Ort erledigen können. Ein ambitionierter Plan. In Hangar 1 ist das Dach undicht. Es gibt in der ganzen Einrichtung kaum Duschen oder Waschbecken, ja nicht einmal Wasserleitungen, an die man sie anschließen könnte. Es gibt gerade mal vier ausgebildete Sozialarbeiter und nur einen Arzt.

Flüchtlinge in THF, Ahmet und Hala
Foto: Martin Schwarzbeck
Mit über 5.000 Geflüchteten werden sich Ahmed und Hala aus Syrien die Notunterkunft im Hangar 1 bald teilen müssen. Schon jetzt wird es eng auf dem Tempelhofer Feld. Das Lager sei kein guter Ort, sagt Ahmed

Angelika Schöttler SPD-Bezirksbürgermeisterin, und Sibyll Klotz, grüne Gesundheitsstadträtin schrieben kürzlich in einem Brandbrief an den zuständigen Senator Mario Czaja, CDU, die Situation sei desolat, die sanitäre Ausstattung inakzeptabel, die medizinische Versorgung mangelhaft. Seit dem Brief habe sich außer der Zahl an Mobiltoiletten nicht viel geändert, sagen sie. Die beiden müssen es wissen, Mitarbeiter ihres Bezirks Tempelhof-Schöneberg sind fast täglich vor Ort. Klotz sagt: „Der jetzige Zustand ist nicht tragbar. Die Bedingungen hätten vorher erfüllt werden müssen. Die erste Begehung war am 23. August, die Zeit war da!“

Übersicht Flughafen Tempelhof

Der Ostflügel des Flughafens Tempelhof ragt gewohnt monumental in den fast farbgleichen Himmel. Neu sind die containergroßen Stromgeneratoren davor und der 1.500-Betten-Stapel dahinter. An den Eingänge sitzen bullige Sicherheitsmänner und wischen auf ihren Handys herum. Im Hangar 1 leben die Menschen zu zwölft in Zelten. Wie Ahmed und Hala, sie teilen sich ein Stockbett. Die zwei Taschen, die sie auf ihrer Flucht begleiteten, haben sie darunter gestellt. 90 Zentimeter auf zwei Meter, etwa 1,50 Meter hoch, das ist der Raum, den sie für sich haben. Jeder von ihnen liegt auf seiner Ebene neben fünf fremden Menschen, Privatsphäre gibt es nicht.

In den anderen Hangars schläft man zu zwölft in 25-Quadratmeter-Abteilen aus mannshohen Stellwänden. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wollte für Auslandseinsätze konzipierte kleine Wohnhäuser zur Verfügung stellen, doch inzwischen geht es nur noch darum, so viele Menschen unterzubringen wie möglich, dicht an dicht. In einem Vorraum liegen einige auf einem Matratzenlager. Sie sind heute morgen gekommen, kurz nach Ahmed und Hala. Das Lageso hat sie geschickt, obwohl die Unterkunft bereits überfüllt ist.

Ein Arzt für 2.500 Menschen

Die offiziellen Qualitätsanforderungen, die das Lageso sich einst selbst gab, gelten seit Müllers Ruckrede nicht mehr. Die Belegung ist doppelt so eng wie erlaubt. Kinder gehen nicht zur Schule. Es gibt keine vorgeschriebenen Spiel-, Hausaufgaben-, Aufenthalts-, Beratungs- und Behandlungsräume, keine Gemeinschaftsküchen, keine Schränke oder Lampen, nicht einmal Post für die Bewohner. „Es werden nicht einmal minimalste Anforderungen erfüllt,“ sagt Stadträtin Klotz.

Es ist zwar warm und windgeschützt hier, aber eben auch nicht viel mehr. Der Strom ist knapp, das WLAN, das die private Initiative Freifunk eingerichtet hat, ist schnell überfordert, Freizeitangebote gibt es nicht: Ehrenamtliche sind bisher nur in der Kleiderkammer zugelassen. 78 Security-Mitarbeiter riegeln die Hangars nach außen ab. Maria Kipp, Sprecherin des Betreibers Tamaja, sagt: „Wir müssen erst die Grundversorgung sicherstellen. Und aufpassen, dass hier niemand reinkommt, der etwas anderes vorhat, als zu helfen.“

Die Presse hält man auf Abstand. Der Persönlichkeitsrechte der Bewohner wegen, ein Stück weit vielleicht aber auch, weil man die unangenehme Symbolik scheut. Die Geflüchteten werden meist nachts angeliefert, sie müssen sich ausweisen, einer medizinischen Untersuchung unterziehen, und werden dann in der Stockbetteneinöde verteilt. Es ist ein Lager. Und es ist in einem monumentalen Nazibau, in dem früher Zwangsarbeiter Kampfflugzeuge zusammenschrauben mussten.

Doch der Flughafen wurde als Landeplatz für die Luftbrücke auch zum Symbol für Freiheit. Die Weite des Flugfelds zu erhalten, war bis vor kurzem ein zentrales Projekt des libertären, weltoffenen Berlins. Jetzt ist die Errichtung zumindest temporärer Unterkünfte auf den Rändern so gut wie beschlossen. Wo Bomber starteten, landen Menschen, die vor Bomben flohen.

» Ich fordere, dass es eine stabile Versorgung gibt, bevor weitere Hangars belegt werden. Je mehr Menschen kommen, desto geklärter müssen die Bedingungen sein«

Angelika Schöttler, Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg

Das Flughafengebäude, das bis auf einige Großveranstaltungen übers Jahr zu zwei Dritteln leerstand, wird mit Leben gefüllt. Kinder spielen Fußball auf den Rettungswegen, Erwachsene teilen sich die wenigen Bierbänke und unterhalten sich. Um die Handyladestation hat sich eine Traube von Menschen versammelt.

Um den Ausbruch von Bränden zu verhindern, ist die Feuerwehr ständig mit einem Team vor Ort, an fast jeder Säule hängen Feuer-Verhaltensregeln in acht Sprachen. Gegen den Ausbruch von Krankheiten hat man aber fast nichts in der Hand. Die hygienische Situation ist katastrophal. „Die Toiletten sind oft schmutzig, verschlossen oder es gibt kein Klopapier mehr“, sagt Darim, 50, aus Syrien.

Eigentlich sollten auch Extra-Toiletten und ein spezieller Wohnbereich für Menschen mit ansteckenden Erkrankungen aufgebaut werden, doch es gibt keinen Platz mehr, die Hallen sind voll. Ein Arzt steht für die fast 2.500 Menschen bereit, Medikamente können sich die unregistrierten und somit nicht versicherten Bewohner oft nicht leisten, Tamaja bietet eine Notversorgung. Dennoch treten immer wieder Fälle von Krätze, Läusen, Noro-Viren auf.

Holger Lippmann ist Geschäftsführer von Tempelhof Projekt. Die senatseigene Firma war bis vor vier Wochen Entwickler eines Veranstaltungsortes, jetzt muss sie im Rekordtempo zum Vermieter und In­fra­strukturspezialist für ein Riesen-Flüchtlingslager werden. Lippmann sagt: „Die hygienische Situation ist schwierig, weil es kaum Wasser gibt. Wir müssen die Leitungen erst noch verlegen.“ Die Geflüchteten füllen sich bis dahin Becher an einer Handvoll Kanister und stehen Schlange vor den rund fünf Waschbecken pro Hangar. Zum Duschen müssen sie in umliegende Schwimmbäder fahren, draußen stehen für das ganze Lager nur fünf Dusch-Con­tainer. Waschmaschinen gibt es nicht.

Das Ziel ist eine Dusch-Klo-Waschbecken-Kabine pro 15 Bewohner. Je neun dieser Sanitärboxen sollen eine Pumpstation umringen, die Wasser zuführt, erhitzt und in die Kanalisation ableitet. Die Systeme sind bereits bestellt, doch an mobilen Sanitäreinrichtungen herrscht gerade deutschlandweiter Mangel. „Es wird nicht mehr nach dem Preis gefragt, sondern nur, ob man liefern kann“, sagt ein Mitarbeiter eines großen deutschen Sanitär-Vermieters. Diese Woche soll zumindest ein Testmodell in Tempelhof ankommen.

Es ist laut, es ist eng und wenn jetzt bald des Winters wegen die Klos in die Hangars gestellt werden, fängt es vermutlich auch noch an zu stinken. Laut Lippmann steigt die Zahl der Auseinandersetzungen in der Notunterkunft schon jetzt.

Alle Events für 2016 abgesagt

Die Aufsicht über die Situation der Bewohner führt das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, Bezirksbürgermeisterin Schöttler sagt: „Ich fordere, dass es erst eine stabile Versorgung mit Toiletten, Duschen und medizinischer Betreuung gibt, bevor weitere Hangars belegt werden. Je mehr Menschen kommen, desto geklärter müssen die Bedingungen sein.“ Doch das wird nicht viel helfen. Anfangs ging man davon aus, Hangar 3 und 4 Mitte Dezember zu öffnen. Jetzt sollen bis dahin auch alle übrigen Hallen bereitstehen, die Bewohnerzahl wird sich mehr als verdoppeln und es kann gut sein, dass es dann immer noch schwierig ist, sich auch nur die Hände zu waschen. Die Eröffnung des Flughafens Tempelhof als Flüchtlingsunterkunft war der fatalistische Schnellschuss eines überforderten Senats.

Wer im Gegensatz zum Land Berlin Geld verdient, wenn das Lageso seine Schulden bezahlt, ist der Betreiber Tamaja. Vermutlich wird er auch den Zuschlag für den Betrieb der übrigen Hangars bekommen, Landes- und Bezirkspolitik scheinen ihm wohlgesonnen. Tamaja betreibt auch Unterkünfte am Tempelhofer Weg, Colum­biadamm und bald auch an der Karl-Marx-Straße. 25 Menschen, darunter vier ausgebildete Sozialarbeiter und 14 Sozialbetreuer beschäftigt er im Flughafengebäude. „Jeder der gut ist, den nehmen wir“, sagt Sprecherin Kipp. Aber auf dem Arbeitsmarkt lassen sich kaum mehr Fachkräfte finden. In den Hangars wird hauptsächlich Arabisch gesprochen, Sozialarbeiter, die dessen fähig sind, sind erst recht rar gesät.Für das Land ist sie ein Verlustgeschäft. 30 Veranstaltungen waren in den Hangars für 2016 bereits gebucht, sie mussten alle abgesagt werden. Tempelhof Projekt verhandelt gerade mit den Machern von Formula E oder Lollapalooza über Ersatzflächen. „Wir wollen den Schaden begrenzen, und wichtige Veranstaltungen in der Stadt halten“, sagt Geschäftsführer Lippmann.

Das Geschäft mit der Not

Der Chef von Tamaja, Michael Elias, war Manager und ist im April 2014 ins Geschäft mit den Flüchtlingen eingestiegen. Er gilt als engagiert, verteilt aus Kulanz Medikamente und beschäftigt freiwillig einen Arzt, der zwar nicht verarztet, aber zumindest Notfälle in die Klinik fährt. Der Preis pro Flüchtling und Nacht ist noch nicht besiegelt, aber wenn man den vorläufigen Satz von 15 Euro zugrundelegt, würde Tamaja für die Versorgung von 5.000 Menschen 75.000 Euro am Tag bekommen. Dafür stellt die Firma Bettwäsche, Essen, Hygieneartikel, lässt das Gelände bewachen und putzen.

Die Betten werden wohl auch in den nächsten Hangars von Bundeswehr und Feuerwehr zusammengeschraubt. Gezahlt werden sie vom Lageso, wie auch Stellwände, Sanitäranlagen, Heizung und Strom. Doch die Zahlungsmoral der Behörde gilt als mangelhaft. Sie scheint auch nicht mehr der enthusiastischste Verhandlungspartner zu sein. Krankenhäuser könnten Personal entsenden, doch bisher gibt es offensichtlich keine entsprechende Vereinbarung. Die für das Lageso verantwortliche Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales zog es vor, sich gegenüber Zitty nicht zu äußern.

Auch mit Tempelhof Projekt hat das Lageso noch keinen Preis ausgehandelt. Fünf Euro pro Quadratmeter und Tag nimmt der Flughafenvermarkter normalerweise. Das senatseigene Lageso zahlt der senatseigenen Tempelhof Projekt eine Miete, die irgendwo darunter liegt, das Geld bleibt im Land, doch einen Teil der Kosten muss dann der Bund übernehmen.

Der hat allerdings seine eigenen Pläne für das Gebäude. Ans Westende des langgestreckten Baus soll das Alliiertenmuseum ziehen, auch in Hangar sieben, in dem aber, wenn Europa nicht radikal seine Grenzen schließt, dann vermutlich immer noch Flüchtlinge leben. Den Sieg über Hitler und seine Lager-Politik am angemessenen Ort zu würdigen, lässt sich die Bundesregierung 27,1 Millionen Euro kosten. Der Architekturwettbewerb beginnt bereits kommendes Jahr. Es könnte zur Entscheidung kommen, zwischen der Erinnerung an einen militärischen Einsatz und der Bewältigung eines humanitären.