Kraft schlägt Wahrheit

Streit in der Jüdischen Gemeinde

Anmaßend und rücksichtslos: Seit Jahren polarisiert Gideon Joffe, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Jüngst haben ihm Mitglieder gar Betrug bei der Repräsentanten-Wahl vorgeworfen. Der erbitterte Streit droht die Community zu zerrütten Text: Michael Sellger

Zwei Stunden hat er still in der letzten Reihe gesessen und die ­chaotische erste Sitzung des neugewählten Gemeindeparlaments verfolgt. Dann aber, in einer der vielen Pausen, bricht es aus ihm heraus: „Es war schon immer so: Wenn drei Juden zusammenstehen, ergibt das fünf Meinungen“, sagt er. Der Zuhörer im Publikum fasst sich an die Stirn und sagt, Zustände wie in den vergangenen Monaten jedoch habe er nie zuvor erlebt.

Als er vor 25 Jahren aus der Ukraine kam, ging er auf Mitte Fünfzig zu, war Ingenieur in der Sowjetunion und hatte lange gezögert, nach Deutschland auszuwandern, in das Land, das so viel Unglück über seine Familie brachte. Doch er fand hier eine wachsende Jüdische Gemeinde, der immer mehr Menschen aus der Ex-UdSSR beitraten. Eine Gemeinde, die ihm Halt gab in der schweren Zeit des Neubeginns. Eine Gemeinde, die heute vor den Augen ihrer 10.000 Mitglieder zu zerfallen droht.

Seit Jahren geht ein tiefer Riss durch die größte Jüdische Gemeinde Deutschlands. Nirgends zeigt sich dieser Riss so deutlich wie in der Diskussion um die Wahlen zur ­Repräsentantenversammlung. Der Urnengang am 20. Dezember des vergangenen Jahres war ein Machtkampf zwischen den beiden großen Gruppen Koach und Emet, Kraft und Wahrheit, angeführt von Gideon Joffe und Sergej Lagodinsky. Zwei Männer, die sich als unversöhnliche Antipoden gegenüberstehen.

Lala Süskind war früher Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, vier Jahre lang, bis 2011. Ihren Nachfolger Joffe bringt sie mit Vetternwirtschaft und Filz in Verbindung Foto: Levi Salomon
Lala Süskind war früher Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, vier Jahre lang, bis 2011. Ihren Nachfolger Joffe bringt sie mit Vetternwirtschaft und Filz in Verbindung
Foto: Levi Salomon

Joffe sitzt der Gemeinde seit 2011 vor und hat dem amtlichen Endergebnis zufolge so viele Wählerstimmen gewinnen können wie kein anderer Kandidat. In der Repräsentantenversammlung entfallen 13 der 21 Sitze auf seine Koach, eigentlich ein klarer Sieg. Doch die unterlegene Emet-Fraktion beklagt Unregelmäßigkeiten und wittert Wahlbetrug, weil es vor allem die Stimmen der Briefwahl waren, die Koach zum Sieg verhalfen.
„Ohne die Briefwahl hätte Emet ­haushoch gewonnen“, sagt Lala Süsskind, die der Gemeinde bis 2011 selbst vier Jahre lang vorstand und fassungslos ist über Joffe. Einen Puls von über 200 habe sie, „vor lauter Wut darüber, dass meine Gemeinde kaputt gemacht werden soll“. Sie berichtet von einem Wahlleiter, der als Anwalt auch Mandanten bei Koach vertrete und dessen Objektivität fragwürdig sei. Von einem Schiedsausschuss, bei dem man nach der Wahl Beschwerden anmeldete, den der Wahlausschuss aber ignoriert habe. Von ihrem Verdacht, die hohe Zustimmung für Koach bei der Briefwahl sei nicht koscher.
Joffe sagt auf Anfrage, anders als Emet habe Koach gezielt Briefwähler mobilisiert und damit vor allem ältere Gemeindemitglieder zu einer Abstimmung bewegen können, das Ergebnis sei deshalb nicht auffällig.

Schon lange wird in der ­Gemeinde über Joffes Führungsstil ­geklagt, der ­anmaßend sei, rücksichtslos und undurchschaubar. In einem offenen Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland beklagt Joffes Gegenspieler Lagodinsky einen „Zustand der Gesetzlosigkeit, des Nepotismus und Despotismus“. Es ist ein so verzweifelter wie zorniger Hilferuf. Joffe sagt hingegen, Lagodinsky sei ein „typischer Vertreter der Medienwelt, der sich für einen Wettbewerb der Verleumdungen anstatt der Ideen entschieden hat“.
Sein eigenes Erfolgsgeheimnis sei es, „die Mannschaft immer zusammengehalten zu haben“. Nur deshalb sei in seiner Amtszeit so viel Gutes für die Gemeinde in so kurzer Zeit geschehen.

Das Schiedsgericht des Zentralrates der Juden hat die Entscheidung des Berliner Wahlleiters, trotz aller Bedenken bereits Anfang Januar ein amtliches Endergebnis zu verkünden, kassiert und angemahnt, zunächst eine Wahlprüfung abzuwarten.

Doch Joffe will Fakten schaffen: Die konstituierende Sitzung fand am Sonntag trotz aller Vorbehalte statt. Es dauerte nicht lange, bis es zum Eklat kam: Den obligatorischen Selbstverpflichtungen der Abgeordneten schlossen die Emet-Leute eine Protesterklärung an, da die Sitzung „illegitim“ sei. Unruhe im Publikum. Jegliche Aussprache aber wurde vom Sitzungsleiter, einem Koach-Mann, strikt unterbunden. Wie nicht anders zu erwarten, wurde ein Vorstand gewählt, dem nur Koach-Mitglieder angehören, und der Joffe zum Vorsitzenden kürte. Es ist nach dieser Sitzung kaum vorstellbar, dass sich der Aufruhr in Joffes nunmehr dritter Amtszeit legen wird.
Lala Süsskind sagt, sie wisse nicht, ob sie weiterhin in der Gemeinde bleiben ­werde. „Es tut weh zu sehen, dass meine Gemeinde nicht mehr meine Gemeinde ist, zerstört von einigen Wenigen.“

Auch der ältere Herr in der letzten Reihe, der im Verlauf der Sitzung fassungslos mit dem Kopf schüttelt, ringt mit sich. Wird er in der Gemeinde bleiben? „Alles was mich noch hält, ist die Hoffnung, dass dieser Spuk irgendwann vorbei ist.“