Politik

Was ist eigentlich links?

Es war schon immer mehr Lebensgefühl als Überzeugung. Doch was bedeutet es heute, wo auch die Bürgerlichen gegen die Macht der Banken auf die Straße gehen? Auf Spurensuche in einer Stadt, in der so viele gerne links wären

Sahra Wagenknecht hat mit ihrem neuen Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ ungewöhnliche Fans gewonnen. Gerade aus der CDU habe sie positive Rückmeldungen bekommen, erzählt die Vizechefin der Linken. Sie ist kurz angebunden, in der Krise ist sie zur begehrten Gesprächspartnerin geworden. Das war nicht immer so. Sahra Wagenknecht umwehte lange die Aura der schönen Kommunistin mit den radikalen Gedanken, die selbst von Parteifreunden gemieden wurde. Der Bürgerschreck, der den Kapitalismus abschaffen will. Das will sie zwar heute noch, verkauft das aber in ihrem Buch als logische Folge der sozialen Marktwirtschaft. „Ludwig Erhards Versprechen, Wohlstand für alle, ist ein urlinker Anspruch, der bis heute nicht eingelöst wurde“, sagt sie. Planwirtschaft und Marktwirtschaft – das ist für sie kein Gegensatz mehr.

Aber auch die andere Seite hat sich bewegt. Früher habe jemand schon als Kommunist gegolten, wenn er nur den gesetzlichen Mindestlohn gefordert hat, erinnert sich Wagenknecht. Heute spricht sich selbst Angela Merkel für Mindestlöhne, Transaktionssteuer und Bankenregulierung aus, kommt ja alles gut an beim Wähler. Die alten Lagergrenzen scheinen zu zerfließen.

Seit der Finanzkrise gilt als salonfähig, wer den Kapitalismus in seiner jetzigen Form abschaffen will, in Umfragen zweifeln die Deutschen am Wirtschaftssystem, im Berliner Abgeordnetenhaus gibt es fast eine linke Zweidrittelmehrheit. Der Zeitgeist ist links. Aber was heißt das?

Links war schon immer mehr als eine politische Einstellung, ein Lebensgefühl. Gerade in Berlin: Hierher kamen die Wehrdienstverweigerer aus Westdeutschland oder andere, denen es in ihrer Heimat zu eng geworden war. Sie suchten ein neues Zuhause und fanden vielfach im linken Lebensgefühl eine neue kollektive Identität.

Wer links ist, glaubt auf der richtigen Seite zu stehen, bei denen, die für die Schwachen kämpfen, bei denen, die gegen die Ungerechtigkeiten in dieser Welt, die an das Gute im Menschen glauben – und das Schlechte im System wittern.

In den 60er- und 70er-Jahren galt als links, wer Autoritäten in Frage stellte, wer das Schweigen der Eltern zur Nazi-Vergangenheit nicht mehr hinnahm, wer für die Emanzipation der Frauen eintrat. Zehntausende gingen auf die Straße, um gegen den Vietnamkrieg und die Wiederbewaffnung zu protestieren. Und heute? Ein Streifzug durch die Stadt zeigt: Das linke Lebensgefühl scheint kaum an Anziehungskraft eingebüßt zu haben. Im Gegenteil. Es hat sich ausgedehnt. Inzwischen geht auch die Mitte der Gesellschaft auf die Straße, um gegen Bahnhöfe, Flugrouten, aber auch gegen die Macht der Banken zu demonstrieren. Aber ist es links, wenn Tausende in Berlin gegen das Acta-Abkommen demonstrieren, mit dem die Staaten gegen die Produktpiraterie vorgehen wollen? Kämpfen sie wirklich für die Erhaltung liberaler Bürgerrechte oder wollen sie einfach ganz bequem weiter illegal downloaden?

Die, die sich als links definieren, sind hin- und hergerissen. Die einen freuen sich, dass sich die CDU zum Atomausstieg durchgerungen hat, dass die Konservativen nun auch  die Börsenumsatzsteuer einsetzen wollen – das ist immerhin die uralte Forderung der Globalisierungskritiker von attac. Die anderen fürchten um ihre Daseinsberechtigung, wenn auch die Bürgerlichen ihre Meinung übernehmen. Und sie loten die Grenze des linken Denkens aus. Die Gretchenfrage ist dabei stets das Eigentum: Kann man als Wohlstandsgewinner noch links sein? Darf sich ein Linker überhaupt ein Häuschen kaufen? Aus dem großen linken Lebensgefühl ist vielfach eine Einzelfallentscheidung geworden.

Die Stadtnomaden

Eine gute Stunde bevor ihn zwei Polizisten aus dem Hauptbahnhof tragen, spaziert Valentin Mayer am Ende des Demonstrationszugs an der Spree entlang und erklärt, was in der Welt falsch läuft. „Die Straßen sind zu Fließbändern geworden“, sagt der 27-Jährige mit den ausgeprägten Wangenknochen und dem Zopf. Die Stadt funktioniere wie eine Fabrik, in der alles nach Profitmaßstab verwertet werde. Mayer stößt Atemwölkchen aus, um seinen Hals hängt eine Pfeife. Die Menschen hätten keine Zeit mehr für sich selbst oder für andere. „Die Sklaverei versteckt sich im Lohnsystem“, das möge man doch bitte schreiben, sagt der Politikstudent, bevor er losrennt, um den Zug der etwa 1.500 Occupy-Demonstranten wieder zu erreichen. Der steuert auf den Hauptbahnhof zu.

Mayer heißt eigentlich nicht Mayer, aber weil ihn die Polizei schon angerufen und nach Telefonnummern anderer Occupy-Anhänger ausgefragt habe, ist er vorsichtig geworden. Zumal manche Aktivisten schon angezeigt wurden, weil sie öffentliche Plätze besetzt hatten: Bahnhöfe und Einkaufszentren, den Platz vor dem Reichstag oder mal eine S-Bahn. Orte, deren Sinn Occupy umwidmen will: Wenigstens für kurze Zeit sollen die Menschen über Weltprobleme reden und Demokratie leben, anstatt zu konsumieren oder von A nach B zu hetzen.

Drei Mannschaftswagen der Polizei fahren langsam am Hauptbahnhof vorbei. Der Protestzug folgt, nur ein junger Mann mit Hut löst sich heraus, winkt und ruft. Erst schließen sich ein, zwei, drei Leute an, dann immer mehr, bis knapp zweihundert Demonstranten durch den Eingang strömen und sich vor die Abfahrtspläne setzen. „Wir sind friedlich!“, ruft ein junger Mann mit Dreitagebart und einem Palästinensertuch um den Hals. „Wir sind die 99 Prozent! Wir wollen die Welt verändern!“ Einer zupft an seiner Gitarre, die Aktivisten singen. „Capitalism kills love“ steht auf einem Transparent. Passanten glotzen. Polizisten reihen sich auf. Ein Mann mit Bahnmütze starrt auf die Gruppe, spannt die Lippen und spricht in ein Funkgerät.

Während sich linke Bewegungen in den vergangenen Jahren oft angepasst gaben, fordern junge Menschen heute unbefangen, den Kapitalismus abzulösen. Die Zeiten sind vorbei, in denen mit Verweis auf die DDR alle Kapitalismuskritik abgewiegelt werden konnte. Ein Zurück zur Überwachungsdiktatur will selbst die Linkspartei nicht mehr. Wie genau die Alternative aussehen soll, wissen sie auch nicht, stattdessen drücken sie ein Unbehagen aus, dass irgendetwas gerade fundamental falsch läuft. Als „aggressives Schweigen“ bezeichnete der slowenische Philosoph Slavoj Žižek die Strategie von Occupy. Sie stellen in Frage, was bisher hingenommen wurde: Warum habt ihr es zugelassen, dass sich eine kleine Elite von Bankern auf Kosten von 99 Prozent der Bevölkerung bereichern kann? Warum habt ihr es hingenommen, dass Großbanken und Fondsmanager auf der Suche nach dem maximalen Profit absurde Milliardenwetten abschließen und die Steuerzahler dafür zahlen müssen?

So radikal die Systemkritik auch ist, so friedlich sind die Zelt-Aktivisten, wenn sie protestieren. Mit Polizisten versuchen sie ins Gespräch zu kommen – ausschließen wollen sie niemanden. Gerade diskutieren sie, wie weit sie mit ihren Aktionen gehen wollen.

Derzeit jedenfalls nicht weit genug, findet Peter Grottian, Sozialwissenschaftler an der FU Berlin und Politaktivist seit den 70er-Jahren. Occupy solle sich viel mehr trauen: Banken blockieren, besetzen, die Grenzen ausloten. Und so mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Natürlich alles friedlich. „Ziviler Ungehorsam gehört wie das Salz in der Suppe zur Demokratie“, sagt der 69-Jährige. Anderen linken Gruppen geht auch das nicht weit genug. Für sie zählt nur eins: die Eskalation.

Die Hausbesetzer

Der junge Mann mit den Rastalocken sieht nicht gut aus. Die Gesichtsfarbe weiß, Augenringe, Blutstriemen auf der Wange, am Rücken und an den Beinen. Der Mund steht ihm offen und er stöhnt, während er mit nach vorne ausgestreckten Armen drei Polizisten hinterhertorkelt.

Zum „Zombiewalk“ haben sich Linksautonome und Gentrifizierungsgegner am Bersarinplatz in Friedrichshain getroffen an diesem klirrend kalten Februartag, um gegen eine „Stadtpolitik der Verdrängung“ und die Räumung des linken Wohnprojekts Liebig 14 vor einem Jahr zu protestieren.
Andreas Keller war einer der Bewohner. Auch er heißt eigentlich anders. Der Musiker ist Anfang 30, im Kiez aufgewachsen, dort zur Schule gegangen. Er hat mehrere Jahre in der Liebig 14 gewohnt. Bis der Eigentümer die Mieter herausklagte und die Wohnung sanieren ließ. Jetzt hält Keller ein Transparent mit der Aufschrift „Finger weg von unseren Häusern. Nazis und Bullen Fuck Off!“ und zieht mit etwa tausend Demonstranten durch Friedrichshain.

„Die Leute können nichts mehr anderes machen als für die Miete zu arbeiten“, sagt Keller, ein gemütlicher Typ mit Dreitagebart im Gesicht, das umrahmt wird von einer schwarzen Kapuze. Während die Mieten stiegen, sänken die Löhne, gleichzeitig werde der Freiraum immer kleiner. Gegen diese „Zombiisierung“ der Stadt protestiere er. Er selbst versteht sich als Anarchist, den Kern der linken Idee sieht er darin, sich von Herrschaft jeder Art zu befreien.

Damit liegt er ideell gar nicht so fern von Occupy-Aktivist Mayer. Aber Occupy sei ihm einfach „zu esoterisch“, „zu zahnlos“. In bestimmten Situationen hält er Gewalt für ein legitimes Mittel des Protests – sei es, um eine Nazidemo zu verhindern oder sich gegen eine Räumung zu wehren.

Wie eine Woche zuvor, als Vermummte im Hof des inzwischen sanierten Hauses in der Liebigstraße 14 Mülltonnen umkippten, Scheiben einschmissen und die herbeieilenden Polizisten angriffen. Die wiederum stürmten ein linkes Wohnprojekt in der Rigaer Straße und nahmen 30 Personen fest. Der Streit um Liebig 14 kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder wird die Fassade mit Farbbeuteln oder Steinen beschmissen und Scheiben zerbrochen. Einmal brannte der Dachstuhl. Im Sommer klauten Unbekannte Ziegel vom Dach.

Heute bleibt es relativ ruhig. Aus einem Kindercafé, einer Crêperie und einem Szenelokal am Boxhagener Platz gucken junge Frauen mit besorgten Gesichtern durch die Schaufenster, während der Block aus schwarzbekleideten Kapuzenträgern mit einer einsamen Antifa-Fahne vorbeimarschiert. „BRD Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt!“, schallt es. Eine kurze Schubserei, ein Böller und eine Bierflasche fliegen, für heute war es das.

Liebig 14 ist zum Symbol der linken Szene gegen Investoren, Mieterhöhungen und Gentrifizierung geworden. Das Kapital strömt ins Zentrum, wer wenig Geld verdient, wird an die Peripherie gedrängt, der Freiraum für alternative Lebensmodelle in der Stadt wird kleiner. Alles Punkte, die den linken Ideen von Gemeinsinn, Gleichheit und Selbstbestimmung zuwiderlaufen.

Ist also ein Linker, wer dagegen auf die Straße geht und auch mal einen Farbbeutel oder Stein wirft? Oder ist der nicht in Wahrheit ein Konservativer, der jede Veränderung im Kiez ablehnt und Angst vor Fremden schürt, indem er Zuzügler wie Eindringlinge behandelt? Wer zwingt wem seinen Lebensstil auf?
Seit einigen Jahren beschäftigt die linke Szene in Berlin kaum etwas so sehr wie die Frage der Aufwertung von Stadtvierteln und die Verdrängung von Mietern. Doch nicht nur Investoren, die Häuser kaufen, sanieren und die Mieten erhöhen, sind ins Visier von linken Gruppen geraten. Auch Baugruppen, deren Bewohner selbst oft aus dem linken Milieu stammen, werden angefeindet.

Die Häuslebauer

Irgendwann kam der Punkt, da war es Christian Schöningh einfach egal. „Macht doch eure Revolution“, dachte sich der Projektbetreuer von KarLoh, einer Baugruppe aus 21 Parteien, die in Alt-Treptow vor etwa eineinhalb Jahren ein Haus gebaut hat. Zu dem Zeitpunkt hatten linke Gegner der Gentrifizierung den fünfstöckigen Neubau wiederholt angegriffen: Fensterscheiben eingeworfen, Farbe an die Hauswand gespritzt, Hassflugblätter im Kiez verteilt. Und das war noch lange nicht alles.

Schöningh sitzt im Aufenthaltsraum von KarLoh auf einer Bierbank, neben ihm drei Bewohner des Wohnprojekts. Noch heute schütteln sie die Köpfe, wenn sie an die Anfeindungen zu Beginn denken. „Wir wurden mit Investoren in einen Topf gesteckt“, erinnert sich Erwin Hinke. „Wir waren die Projektionsfläche für das Böse.“

Ausgerechnet sie. Die meisten aus Kreuzberg 36, darunter ehemalige Hausbesetzer und Mitglieder linker Gruppen. Sie sollten auf einmal nicht mehr dazugehören, zur Gruppe der Linken, zu den vermeintlich Guten. Das saß tief. Das Haus im Karl-Kunger-Kiez hatten sie gemeinsam geplant, gebaut, gezahlt. Auf einer Brache, vertrieben wurde niemand. Sie wollten sich den Traum vom Eigenheim erfüllen – und doch nah dran bleiben an ihrer alten Heimat. Kreuzberg beginnt direkt auf der anderen Seite des Kanals.

Keiner verdient an den Wohnungen, keiner schöpft „Mehrwert“ ab. Alles „non profit“. Auch sie wollen immer noch links sein. Alle zwei Wochen treffen sich die Bewohner, um über den Bau zu sprechen, über Baumängel, den Garten, Feste. Entschieden wird im Konsens. Ein Konsens, der links sein soll und schnell etwas Kollektivistisches hat. Neulich haben sie debattiert, wer in die frei gewordene Wohnung einziehen darf, und sich für ein lesbisches Pärchen mit Pflegekind entschieden.

Gegner warfen der Baugruppe vor, sie fördere die Verdrängung im Kiez und schaffe Privateigentum. Beim Begriff Eigentum trennt sich die Spreu vom Weizen. Für die einen ist Eigentum Diebstahl, für die anderen Lohn der eigenen Arbeit. Um den Bau zu verhindern, besetzte die lokale Initiative „Karla Pappel“ für kurze Zeit das Grundstück. Als eine Reihe von Pappeln auf dem Baugrundstück gefällt wurden, stand wenige Tage später mit roter Farbe „Mörder“ auf den Stämmen geschrieben. Fortan wurde gegen Mittelständler, Intellektuelle und „Pseudolinke“ gewettert. Vier der Bewohner, die in der linksradikalen Gruppe „Für eine linke Strömung“ organisiert waren oder sind, wurden aufgefordert, aus der Baugruppe auszutreten.

Im Laufe der Zeit rückten jedoch immer mehr aus der linken Szene von den Kiezrebellen ab. Zu verbohrt erschienen die Angriffe. Anlass für zwei Mitglieder von Martin Sonneborns „Die Partei“, sich vor das Haus in der Lohmühlenstraße zu stellen und Schilder hochzuheben mit der Aufschrift: „Auf deutschem Boden darf nie wieder gebaut werden!“ Als im September eine Demonstration im Karl-Kunger-Kiez entlanglief, wollte die Sprecherin von „Karla Pappel“ vor dem Wohnprojekt KarLoh reden. Doch sie durfte nicht. „Das ist nicht wichtig genug“, hätten andere Protestler zu ihr gesagt, so erzählt es Kirsten Twetbeck, eine der Bewohnerinnen. Die linken Gegner der Gentrifizierung wollten sich jetzt lieber auf Investoren konzentrieren. „Seitdem ist Ruhe.“ Christian Schöningh will dennoch eine Konsequenz aus den Erfahrungen mit KarLoh ziehen. Der Architekt vom Büro „Die Zusammenarbeiter“ plant derzeit ein neues Wohnprojekt. Das will er diesmal jedoch genossenschaftlich organisieren. Ohne Wohneigentum.

Das Verständnis der Linken hat sich individualisiert. Den Kapitalismus wollen sie überwinden, zumindest ab dem linken Flügel der SPD, aber einen allmächtigen Staat wollen sie noch lange nicht. Jeder soll ein selbstbestimmtes Leben führen können und selbst entscheiden können, wo er leben und wie er wohnen will. So sehen das nicht nur die KarLoh-Mitglieder, sondern auch Juso-Chef Sascha Voigt – und Sahra Wagenknecht. Die 42-Jährige lebt in einer Mietwohnung in Karlshorst. Aber wer es sich leisten könne, solle sich ein Haus kaufen, solange es genügend bezahlbare Wohnungen gäbe. Lange Zeit sei das ja der Inbegriff von Wohlstand gewesen: Ein Auto und ein Häuschen. „Aber es gehört mehr dazu“, sagt Wagenknecht. „Freie Zeit für Freunde, Liebe, Feste, Kultur.“ Beides kann heute links sein: Gemeinsam ein Haus bauen und es verwalten oder die internationalen Finanzmärkte kritisieren und den Systemwechsel fordern.

Die 99 Prozent

Valentin Mayer sitzt inzwischen zusammen mit den etwa 200 Occupy-Aktivisten im Hauptbahnhof. „Mic Check!“, ruft er. „Mic Check!“, ruft die Runde. Mit dieser Verständigungsart sparen sich die Okkupisten das Mikrofon und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Einen Ort brauche man, an dem man seine Sorgen, Hoffnungen und den Zorn besprechen können, stößt Mayer hervor und ballt die Fäuste. „Menschen dieser Stadt, helft uns, diesen Ort zu schaffen!“ Die meisten Passanten gucken nur kurz, 20 Polizisten haben sich aufgereiht. „Wir brauchen keine Chefs“, erklärt Mayer,  „lasst es uns selbst in die Hand nehmen.“ 50 Polizisten stehen nun am Rand, ein paar verteilen Helme.

„Ich möchte Sie bitten, diesen Raum zu verlassen“, sagt ein Polizist mit Megaphon. Die Aktivisten heben die Arme und wedeln mit den nach unten geklappten Händen – das Zeichen für Ablehnung. „Wenn Sie nicht freiwillig gehen, müssen wir die Versammlung auflösen“, entgegnet der Polizist und erinnert an das Hausrecht der Bahn. „Die Bahn gehört uns“, ruft einer aus der Menge. „Dieser Privatisierungswahn muss endlich ein Ende haben! Lassen Sie uns hier friedlich reden!“ Die Polizisten gehen auf die Gruppe zu. „Keine Gewalt!“, skandiert die Menge und pfeift. Zu zweit oder dritt packen sich die Polizisten je einen der Sitzenden. Auch Mayer wird hinausgetragen. Manche kriegen Lederhandschuhe ins Gesicht gedrückt oder werden vor die Tür geschubst. Einer jungen Frau läuft eine Träne hinunter, während ihr Freund sie in den Arm nimmt. Der Bahnhofsvorraum leert sich, bis nur noch eine Gruppe Polizisten herumsteht. Im Bahnhof haben die Passanten ihren Normalbetrieb wieder aufgenommen und hetzen zu den Zügen. An die Besetzung erinnert nur noch ein Pappschild mit der Aufschrift „Wir sind 99 Prozent“, das an einem Mülleimer der Bahn hängt. Im Restmüllfach.