Rock'n'Roll

Die Verständnisvollen

Norbert Müller und Kollegen schaffen Barrierefreiheit, indem sie Texte gegenlesen

orbert Müller packt stolz seine digitale Spiegelreflex-Kamera auf den Tisch, die er mit zur Arbeit gebracht hat. Der 66-Jährige aus Lichtenberg hat sie sich vor zwei Jahren gekauft und macht seither gerne Fotos auf der Straße. Dabei ist er unfreiwilliger Autodidakt, denn die Gebrauchsanleitung kann er vergessen. „Man will es lesen, aber man kann es nicht lesen“, sagt Müller. Den Kollegen, die in der Prüfgruppe des Übersetzungsbüros Capito Berlin zusammengekommen sind, geht es genauso. Alle fünf Anwesenden haben eine Lernschwäche und können die meisten Texte nicht ohne Weiteres verstehen, ob Gebrauchsanweisung oder Handyvertrag.

Capito Berlin übersetzt Texte, vom Parteiprogramm bis zum Mietvertrag, in die sogenannte Leichte Sprache. Deren Sätze bestehen in der Regel aus nicht mehr als acht Wörtern, möglichst ohne Nebensätze, kein Passiv, kein Konjunktiv, keine Fremd- und Fachwörter. Vor allem ist sie für Menschen mit Lernschwierigkeiten gedacht, aber auch Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen profitieren davon.

Die Experten der Prüfgruppe lesen die übersetzten Texte Probe, um zu sehen, ob sie auch alles verstehen. Einige Male im Monat kommen die Anwesenden für 7,50 Euro pro Stunde in das Büro in Mitte. Gerade haben sie sich die Informationsbroschüre eines Besuchsdienstes vorgenommen.

Mal schnell im Internet nachgucken, um eine Frage zu klären – das gibt es nicht für Menschen wie Guido Rösler und seine Frau Sabrina, die Lernschwierigkeiten haben. Neulich haben sie sich abends über Angstzustände unterhalten und wollten darüber etwas nachlesen. „Ich habe die Seite ganz schnell wieder zugemacht“, sagt Sabrina Rösler. Internet ist für sie eigentlich nur Facebook, YouTube und E-Mails schreiben.

Ähnlich verhält es sich mit Büchern. Guido Rösler hat von seiner Mutter ein Buch über Buddhismus geschenkt bekommen, weil er sich dafür interessiert. Er hat mal reingeguckt. „Dann habe ich es zugeschlagen und zurück in den Schrank gepackt.“ Solche Momente machen ihm zu schaffen. „Man möchte sich doch auch weiterentwickeln“, sagt er. Jetzt hat Rösler sich aus der Bücherei ein Yoga-Buch ausgeliehen, das er gut verstehen kann.

 

In die Prüfgruppe kommt er sehr gerne – hier lernt er schließlich jedes Mal etwas. Zum Beispiel über das EU-Wahlrecht, als Capito Berlin zur Wahl im Mai eine Infobroschüre in Leichter Sprache erstellt hat. Das ist so kompliziert, dass die Broschüre auch bei Menschen ohne Lernschwierigkeiten sehr begehrt war.

 

So sieht’s aus:

 

Nach einem Beschluss des Senats soll Berlin bis 2020 in Sachen Bauen, Wohnen, Verkehr, Gesundheit und Medien barrierefrei sein. Ob es nun die BVG-Busse sind, die sich an der Haltestelle für den leichteren Einstieg absenken, oder der zur Verfügung gestellte Dolmetscher für Gebärdensprache beim Amtsbesuch. Laut dem Online-Projekt wheelmap.org sind von allen markierten öffentlichen Einrichtungen in Berlin rund 9.000 zugänglich, 4.200 teilweise und 5.000 immer noch überhaupt nicht.