Rock'n'Roll

Wie sich Berliner mit Behinderung die Stadt erobern

Die Zeiten, als behinderte Menschen sich an den Rand der Gesellschaft haben drängen lassen, sind vorbei. Jetzt nehmen die ehemaligen Außenseiter sich ihre Rechte – und ganz selbstverständlich am Leben teil. Wir haben fünf von ihnen porträtiert

Text: Franziska Felber, Fotos: Nancy Göring

Schon der Applaus zeigt, wie unterschiedlich die Menschen sind, die sich auf dem Hermannplatz versammelt haben. Die einen wedeln mit den Händen in der Luft, wie es in Deutscher Gebärdensprache üblich ist, die anderen juchzen einfach, wenn ihnen ein Redebeitrag gefällt, ein kleines Mädchen tanzt vor Freude. Ach ja, in die Hände klatschen kann man ja auch noch. „Wir wollen einen Ort schaffen ohne Angst, nicht normal zu sein“, ruft eine Rednerin, übersetzt von einer Dolmetscherin für Gebärdensprache, und erntet wieder alle Formen des Beifalls. Die Menschenmenge, die an einem Juli-Wochenende mit der zweiten Berliner Pride Parade durch Berlin zieht, ist so bunt und vielfältig, wie man es sonst kaum erlebt auf öffentlichen Veranstaltungen.

2.000 Menschen sind laut den Organisatoren unter dem Motto „Behindert und verrückt feiern“ zusammengekommen. Es sind Junge und Alte da, Mädchen mit Dreads und Herren im Anzug. Ob behindert oder nicht, ist oft kaum zu erkennen. Klar, die Menschen im Rollstuhl sieht man gleich, dazu auf den zweiten Blick auch Blindenstöcke und Hörgeräte.

In einer Stadt, die sich selbst für ihre Toleranz so liebt, ist es vielleicht gar nicht so wichtig einzuordnen, wer wie normal ist. Aber es reicht nicht, so zu tun, als gäbe es keine Unterschiede. Schließlich macht es sehr wohl etwas aus, wenn ein Rollstuhlfahrer vor einem Konzertbesuch plötzlich durch eine Schleuse muss und nicht weiß, wie. Wenn ein Mann ohne Arme Auto fah-ren, an der Schranke zum Parkhaus aber nie ein Ticket lösen kann. Wenn ein Mensch mit Downsyndrom sich ständig angeglotzt fühlt.

Inklusion bezeichnet die vollständige Teil-habe aller am gesellschaftlichen Leben. In Berlin wird dafür Pionierarbeit geleistet. So wie 1999, als hier das erste Landesgleichstellungsgesetz der Bundesrepublik in Kraft trat – noch vor dem Bundesgleichstellungsgesetz 2001. „Wir sehen unsere Behinderungen als kulturelle Bereicherung. Wir feiern das. Und wir feiern, dass wir da sind“, sagt Rebecca Maskos, Mitbegründerin der Berliner Pride Parade. Gesetze sind ein Anfang, aber jetzt gehen die behinderten Bewohner Berlins mit Stolz voran und werden ganz selbstverständlich zum Teil der Stadt. Sie holen sich, was sie brauchen, oder machen es selbst, erstellen Online-Karten für rollstuhlgerechte Orte, gründen Initiativen zur Kritik am diskriminierenden Tonfall der Medien, schreiben Blogs über Behinderung als Lifestyle, suchen sich Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt.

„Ja, ich bin verrückt“, steht auf einem Schild, das Michael, 29, aus Neukölln in die Luft hält. Er sei in seinem Leben häufig so bezeichnet worden, sagt er. „In einer Gesellschaft, die relativ krank ist, ist es doch was Gutes, abseits der Norm zu sein.“ Wenn sich Außenseiter wie er nicht verstecken, weicht die Faszination der Andersartigkeit einem selbstverständlichen Umgang. Das war auch der Grund für die meisten behinderten Teilnehmer, hierherzukommen. „Wir wollen Gesicht zeigen“, sagt Jochen, 43, aus Neukölln. Egal, ob man wie er Rollstuhl fährt, Spastiken oder Lernschwierigkeiten hat, keine Arme oder Beine – wenn die Mitmenschen es einmal gesehen haben, gehen sie in Zukunft entspannter damit um.

Und in einer Runde, in der jeder so sein darf, wie er eben ist, wo jeder aussieht, wie er aussieht, fühlen sich alle offenbar sehr wohl. Auf der Pride Parade erzählt einem niemand, was normal ist. Wenn einer Bock hat, sich zurückzuziehen, kann er das tun, dafür haben die Veranstalter einen eigenen Wagen bereitgestellt. Später, auf der Feier am Kottbusser Tor, gibt es einen Ruhe-bereich. Und wer kennt das nicht, dass einem mal alles zu viel wird? Wenn jeder offen mit vermeintlichen Schwächen umgeht, kommt das allen zugute, die sich von Konventionen eingeengt und fremd-bestimmt fühlen. „Das Diktat der Norm aufweichen“, nennt das Rebecca Maskos. Eine Kultur, die das lebt, stellt nicht die Frage nach der Behinderung. Die Frage lautet vielmehr: Was braucht der andere? Bessere Voraussetzungen für eine lebenswerte Gemeinschaft gibt es kaum.

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