Politik

Gestrandet im Hostel

In diesem Jahr sind schon über 1.500 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern oder andere Angehörige nach Berlin gekommen. Die Erstaufnahme-Einrichtungen sind überfüllt, der Senat hat sie teils in Hostels untergebracht. Unter fragwürdigen Umständen.

Ein Parkplatz in Kreuzberg an einem verregneten Septemberabend. ­Marcus Dürr öffnet den Kofferraum ­seines  Mercedes und grinst: „Ein ­Sonderangebot.“ Dann deutet er  auf 100 Schuhkartons im ­Inneren des Wagens. Er hat sie zum Vorzugspreis von ­einem befreundeten Händler bekommen. Sein Freund Jens Nikolai, der neben ihm steht, ­lächelt ebenfalls. Er hat das Geld für die Schuhe gesammelt. Nikolai, ein 41-jähriger Restaurantfachmann, wollte den Flüchtlingen in der Stadt helfen. Via Facebook startete er einen Aufruf, organisierte 1.600 Euro. Von dem Geld kaufen er und Dürr alles mögliche, nicht nur Schuhe, auch Wörterbücher oder Fußbälle.

Doch die Sachen sind nicht für ein Asylbewerberheim bestimmt. Nikolai und Dürr packen die Schuhkartons in  Plastiksäcke und tragen sie in ein Hostel, dessen Name nicht ­genannt werden darf. Dort, im vierten Stock, leben seit Anfang Juni über 50 minderjährige Flüchtlinge, Tür an Tür mit Berlin-Touristen. Es sind Syrer, Afghanen, Pakistaner. Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren, die ohne Erwachsene nach Deutschland gekommen sind.

Jeder kennt die Situation vor dem Lageso, die wartenden Familien und jungen Männer. Doch inzwischen kommen, weitgehend unbemerkt, auch immer mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Stadt. Im Juni waren es 165, im Juli 326, im August 410. Über 1.500 kamen in diesem Jahr bisher.

In der Theorie ist klar, was mit ihnen ­geschieht: Eigentlich werden solche ­Flüchtlinge die ersten drei Monate in einer Erstaufnahme- und Clearingstelle untergebracht, bevor sie an die Bezirke verteilt werden. In diesen drei ­Monaten werden sie rund um die Uhr betreut, erhalten hausintern Deutschkurse oder werden in Willkommensklassen unterrichtet. Das Problem: Die Unterkünfte sind derzeit überfüllt. Damit die Jugendlichen nicht auf der Straße landen, hat man sie deshalb in ­Notunterkünfte gesteckt – in Hotels und Hostels.

Akute Hilfe

Acht ambulante Träger kümmern sich derzeit um die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge ohne Begleitung. Sie betreuen die Kinder und Jugendlichen stadtweit in 17 Einrichtungen.

Langfristige Hilfe

Schon seit zehn Jahren leistet das „Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten unbürokratische Hilfe abseits festgefahrener Flüchtlingsheim-Strukturen, vermittelt etwa Lernpatenschaften. Wer sich engagieren möchte, findet -Infos auf www.bbzberlin.de.

Dort werden sie von gemeinnützigen, anerkannten Trägern der Jugendhilfe betreut. Die sozialpädagogische Praxis Langer gGmbH etwa sendet Teams in drei Unterkünfte – darunter auch das Hostel, für das Nikolai und Dürr die Schuhe gespendet haben. „In den Einrichtungen werden nur Jugendliche betreut, die der ­Situation gewachsen, also nicht schwer traumatisiert oder sonst wie auffällig sind“, erklärt Geschäftsführer Michael Langer. Es seien fast ausschließlich Jungs, Mädchen seien generell in der Erstaufnahmestelle untergebracht.

Auf der Suche nach Schutz: Minderjährige Flüchtlinge sind oft auf die Hilfe von Sozialarbeitern und anderen Fachkräften angewiesen Foto: epd-bild / Juergen Blume / Imago

Die Flüchtlinge würden sieben Tage die Woche von 7 bis 20 Uhr pädagogisch betreut, erklärt Langer. An Wochentagen seien mindestens acht Betreuer im Einsatz. Allesamt ausgebildete Sozialpädagogen oder Fachkräfte, die „aus verwandten Berufen kommen und mindestens einen Bachelorabschluss haben“. Die Jugendlichen, sagt er, bekommen Kleidung und Essen, es gebe eine Stunde Deutschunterricht am Tag. Sie würden zu Arztgängen und Exkursionen begleitet. Außerdem, erzählt er, helfen die Betreuer beim Einleben in Deutschland, organisieren etwa Freizeitaktivitäten. Generell gehe es den Flüchtlingen „ausgesprochen gut“. Die Frage, wie viele Jugendliche sich ein Zimmer teilen, lässt er jedoch unbeantwortet. Als Journalist darf man weder mit den Jugendlichen ­reden noch die Betreuer bei der Arbeit begleiten.

Als „ausgesprochen gut“ würde Walid Chahrour die Situation im Hostel nicht bezeichnen. Der Projektleiter des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge und Migranten steht in Kontakt zu einigen Jugendlichen, die dort untergebracht sind. Ihm zufolge gebe es vor Ort „keine individuelle ­Betreuung und keine Beratung“. Auch die ­Begleitung der Jugendlichen zu Ämtern und Ärzten sei nicht gewährleistet. Niemand würde den Jugend­lichen erklären, warum sie teils Monate im Hostel warten müssen, wie der Asylprozess eigentlich funktioniert, warum sie nicht zur Schule gehen dürfen. Chahrour berät unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seit Jahren. Er bezeichnet die Unterbringung in Hostels als „unverantwortlich“, da sie „nicht den ­Maßgaben des Kinder- und Jugendhilfsgesetzes und der UN-Kinderrechtskonventionen entsprechen“. „Wenn Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken, machen sie sich strafbar“, sagt er. „Warum ist das bei einer Behörde anders?“

Die Behörde, die er meint, ist die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Sie ist für die Jugendlichen verantwortlich und entscheidet über die Auswahl der Träger. ­Damit die Minderjährigen nicht auf der Straße landen, habe man auf ein zeitintensives Auswahlverfahren der Anbieter verzichtet, sagt Ulrike Herpich-Behrens, Referatsleiterin ­Soziale Dienste, Aus– und Fortbildung der Behörde. Unter den Trägern sind auch solche, die noch nicht mit Flüchtlingen gearbeitet haben, sich aber „aufgrund ihrer Erfahrung schnell einarbeiten konnten“.

Die Unterbringung der Minderjährigen ist nicht das einzige Problem. Beim Senat mangelt es auch an Personal. Bevor die Jugendlichen in die Jugendhilfe kommen, muss in einem Erstgespräch geklärt werden, ob sie wirklich minderjährig sind. Viele junge Erwachsene geben sich als jünger aus, als sie sind. Denn Minderjährige haben bessere Chancen auf Asyl.

Inzwischen warten Jugendliche bis zu fünf Monate auf einen Termin für dieses Erstgespräch beim Senat, heißt es bei der Stiftung zur Förderung sozialer Dienste (FSD), die den Prozess mitbetreut. Früher geschah das meist am Ankunftstag. Zwischen 30 und 45 Minuten dauern diese Gespräche, bei denen das Alter der Asylbewerber anhand biografischer Angaben und körperlicher Merkmale geschätzt wird. Geführt werden sie von einem Team, bestehend jeweils aus einem Senatsmitarbeiter, einem Psychologen der FSD-Stiftung und einem Dolmetscher. Im Schnitt acht Gespräche schafft diese Konstellation pro Tag. Demgegenüber stehen laut FSD-Stiftung allerdings an die 800 Jugendliche, die auf einen Termin warten. Ein Verhältnis von 1 zu 100.

Dieser „Engpass“ sei der „Knackpunkt“, räumt Herpich-Behrens ein, verweist aber auf eine laufende Personalaufstockung, die auf eine „Verfünffachung des mit den Erstgesprächen befassten Personals“ abziele.

Unterdessen warten 800 Jugendliche weiter auf einen Termin, ohne den sie nicht angemessen untergebracht werden können, nicht zur Schule gehen, keine klare Perspektive haben. Und täglich kommen mehr.

Generell zieht die Referatsleiterin eine posi­tive Bilanz: Kein minderjähriger Flüchtling müsse auf der Straße schlafen, alle seien in ­Obhut und mit Kleidung versorgt. Auch Probleme mit unbezahlten Hostel-Rechnungen gebe es nicht. Die Situation sei eine grundlegend andere als im Lageso, das der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales untersteht.

Dennoch fallen Gemeinsamkeiten auf: der Mangel an Plätzen, an Personal, an klaren Aussagen. Und während vor dem Lageso noch immer Helfer der Initiative „Moabit hilft“ Medikamente an die Wartenden verteilen, sind es auch bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen häufig Ehrenamtliche, die sich spontan engagieren. Menschen wie Jens Nikolai und Marcus Dürr, die Männer mit den Schuhen.