Mein Kiez

Britz

Wo wohnst du eigentlich? zitty-Autoren schreiben über ihren Kiez. Über die Straße, in der sie leben, über den kleinen Laden an der nächsten Ecke, über nette und weniger nette Nachbarn. Diesmal: Britz

Himmel, wenn mir das einer in meiner Jugend erzählt hätte, dass ich einmal in einem dunkelroten Reihenhaus mit Vorgarten und Apfelbaum wohnen würde, und das auch noch freiwillig … Wahrscheinlich hätte ich ihn sofort verprügelt, wenn er nur klein genug gewesen wäre.

Ich bin vor 20 Jahren nach Britz gezogen, wegen meiner Frau und ein bisschen widerwillig. Neukölln, pah!, ich war etwas Besseres, nämlich Weddinger. Für überzeugte Britzer wie meine Frau war ich damit nur ein halber Berliner, weil Wedding nämlich über dem Knick liegt. Über dem Knick im Stadtplan, das war eine dieser umständlich gefalteten Orientierungshilfen in einer lang vergangenen Zeit, als Google Maps noch nicht erfunden war. In meiner Eingewöhnungszeit wollten wir einmal zu Ikea nach Ruhleben fahren, worauf meine Frau sagte: „Prima, da können wir doch bei deinen Leuten im Wedding vorbeischauen.“ Meine  irritierte Bemerkung, Ruhleben sei von Wedding ungefähr genauso weit entfernt wie von Britz, konterte sie mit dem ultimativen Argument: „Quatsch! Liegt doch beides überm Knick!“
Man könnte basierend auf diesem gar nicht so unrepräsentativen Weltbild einige Vermutungen anstellen über das Verhältnis der Britzer zu sich und zum Rest der Welt. Das habe ich am Anfang auch gemacht, ganz heimlich, für Diskussionen der heftigeren Art hatte ich meine Frau zu gern. Die Britzer sind ein seltsames Völkchen, für sie ist ihre Wohngegend mehr als nur ein bisschen bebaute Erde im Süden Neuköllns. Aber das betrifft nicht nur die Alteingesessenen, sondern auch die Zugereisten, wie ich anhand meiner ganz persönlichen Fallstudie belegen kann. 
Am Anfang hab ich mich über die komischen Straßennamen in meiner Siedlung gewundert, alle sind sie entlehnt dem Werk des niederdeutschen Romanciers Fritz Reuter, dessen Bedeutung für Britz sich mir immer noch nicht ganz erschlossen hat. Lowise-Reuter-Ring, Hüsung oder Dörchläuchtingstraße – wer soll das einem Sachbearbeiter der Deutschen Rentenversicherung am Telefon buchstabieren? Wenn Freunde oder Bekannte mitbekommen, dass ich in der Onkel-Bräsig-Straße wohne, schauen sie nicht selten auf meinen Bauch und sagen: Oh ja, sehr bräsig, passt gut. Was soll’s, stehe ich drüber!

 

Unsere Villa ist ein Reihenhaus

Mittlerweile kann ich mir schwer vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Britz kommt recht nah an das heran, was Tucholsky dem gewöhnlichen Berliner schon 1927 als Anspruchsvorstellung unterstellte: „Ja, das möchtste, eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße.“ Unsere Villa ist ein Reihenhaus in der Hufeisensiedlung, die Terrasse eher übersichtlich und die Ostsee weit weg, aber in der Steinwüste  Berlin geht der Britzer Garten schon als Meer des Wohlgefühls durch. Ein riesiger Park mit See und Hügeln und ausschließlich für Zweibeiner, also komplett hundekackefrei, sehr entspannend, gerade in der Gesellschaft von Kindern. Und was die Friedrichstraße betrifft: dauert zwanzig Minuten mit der U-Bahn. Britz mag ein Dorf sein, aber es ist ein Dorf mit perfektem Weltstadtanschluss.
Mit ein bisschen Geschichtsbewusstsein lässt sich so ein Umzug in einen beschaulichen, von mir aus auch spießigen Vorort auch ideologisch problemlos rechtfertigen. Die Hufeisensiedlung wurde in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts angelegt, auf Wiesen und Feldern, die einmal zum Rittergut Britz gehörten. 1920 wurde die Landgemeinde Britz ein Teil von Neukölln und Neukölln ein Teil des neuen Groß-Berlin. Gut 100.000 Wohnungen fehlten, also wurde gebaut. Auch und vor allem in Britz.
Sozialer Wohnungsbau funktionierte damals etwas anders als heute. Gut 1.000 Wohnungen entstanden zwischen 1925 und 1933 in der Siedlung, die eine Hälfte davon in einem riesigen, als Hufeisen stilisierten Rundbau, die anderen in schmalen Einfamilienhäusern, alle verfügten sie über Mietergärten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten. Viel Grün außen rum, die Häuser in vier verschiedenen Farbtönen gestrichen, und sie sind nicht uniform wie große Bauklötze in den Boden gestampft, sondern verspielt und sachlich zugleich angeordnet. Die Hufeisensiedlung hat nichts von starrer Planung, aber auch nichts von Konzeptlosigkeit. Es herrscht eine unsichtbare und doch für jeden fühlbare Harmonie.
Bei der Vergabe des Wohnraums wurden Arbeiterfamilien bevorzugt. Der Maler Heinrich Vogeler hat hier gewohnt, bevor er sich ins sowjetische Exil begab. Hanno Günther, der als Schüler gegen die Nazis agitierte, bis sie ihn in Plötzensee unters Fallbeil zerrten. Und, der bekannteste, Erich Mühsam, den die braunen Schergen gleich nach dem Reichstagsbrand aus seinem Haus in der Dörchläuchtingstraße verschleppten und in Oranienburg zu Tode prügelten. Ein Gedenkstein erinnert heute an ihn. Früher, als die Kinder noch kleiner waren, hat meine Frau ihnen vor dem Spazierengehen immer gesagt: „Kommt jetzt, wir müssen mal wieder Erich Mühsam besuchen!“

 

 

Menschen, die von alten Zeiten erzählen

Als ich Anfang der 90er nach Britz zog, hatte die Siedlung sich noch einiges von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt. In den Gärten saßen vor allem ältere Leute, viele schon seit Jahrzehnten Mieter, und sie erzählten gern von den alten Zeiten, die spätestens seit 1933 keine guten mehr waren. Gelebter und authentisch vermittelter Geschichtsunterricht ist immer noch der beste. Auch meine Kinder haben ihren Horizont so erweitert. Aber warum die von den Nazis umbenannte Moses-Löwenthal-Straße auch lange nach den dunklen Jahren immer noch Paster-Behrens-Straße heißt, dass hab ich ihnen nicht erklären können.
In den vergangenen Jahren haben sich Alters- und Milieustruktur der Siedlung schleichend verändert. Seit 2001 werden die denkmalgeschützten Häuser nicht mehr vermietet, sondern verkauft. Zum Teil an die alten Mieter, aber weil es um deren Kapitalkraft selten gut bestellt war, rücken immer mehr junge Familien nach. Mit Kindern, vielen Kindern, sehr vielen Kindern. Immer mehr Arbeiter und kleine Angestellte machen Akademikern Platz. Mittlerweile ist die Hufeisensiedlung für Neukölln ungefähr so repräsentativ wie Prenzlauer Berg für Berlin. 
Unser Hufeisen ist attraktiv für viele, denen Mitte und Prenzlauer Berg und Friedrichshain zu sophisticated sind. Wir haben ja auch was zu bieten: Seit 2008 zählt die Siedung zum Weltkulturerbe, höchstoffiziell von der Unesco ernannt. Da kann kein Kollwitzplatz mithalten. Meine Frau sagt, dass unser vor elf Jahren mit Mieterbonus für vergleichbar wenig Geld gekauftes Haus inzwischen bestimmt doppelt so viel Wert sei, aber um das zu überprüfen, müssten wir schon einen Makler einschalten, und dazu besteht kein Bedarf.


„Unser Hufeisen ist attraktiv für viele,

denen Mitte und Prenzlauer Berg zu sophisticated sind“

 

Der Kuhstall heißt jetzt Kulturstall

Nach außen hat die Hufeisensiedlung ihren Charakter gewahrt. Der Denkmalschutz verbietet Türen aus dem Baumarkt, Satellitenschüsseln und individuelle Fassadengestaltung, eine Wohltat für alle Augen auf der Suche nach Ruhe. Ein bisschen mehr Unruhe könnte nur das Nacht- oder zumindest Abendleben vertragen, denn an Cafés und Kneipen sind wir rund um das Hufeisen dramatisch unterversorgt. 
Auch Alt-Britz besticht immer noch durch ein dörfliches Erscheinungsbild: Dorfteich, Kirche, Pfarrhaus und natürlich Gutshof und Schloss. In den Koppeln neben der  Maulbeerallee grasen Tiere, die kein Stadtkind mehr kennt. Rauhwollige Pommersche Landschafe oder, besonders schön, Altdeutsche Schwarzbunte Niederungsrinder. 
Doch hinter den Fassaden geraten die Dinge in Bewegung. Der Gutshof ist knapp fünf Minuten Fußweg entfernt von der Hufeisensiedlung. Auf dem Hof wird schon lange nicht mehr geschmiedet, gemolken oder destilliert. Eigentlich ist es kein richtiger Gutshof mehr, sondern ein Kulturzentrum, der Kuhstall heißt jetzt Kulturstall und im Konzertsaal des Schlosses steht ein echter Bechstein. Heimatmuseum, Musikschule und Restaurants residieren in den historischen Stallungen. Seit dem vergangenen Jahr wirbt der Sternekoch Matthias Buchholz hier um ein Publikum, wie es früher in Britz undenkbar gewesen wäre. Nirgendwo lässt sich der Gesellschaftstransfer in Britz so  anschaulich nachvollziehen wie an Schloss und Gutshof.
Mit jedem Jahr weicht die Beschaulichkeit von früher einer neuen Lebendigkeit. In das Haus schräg gegenüber von unserem ist eine Kreuzberger Familie eingezogen. Vater, Mutter und dazu ein Söhnchen im Kindergartenalter. Als der Kleine einmal Besuch von seinen Kumpels bekam und sich alle zusammen unerhörterweise in der Mittagspause in den Garten wagten, brüllte einer der älteren Nachbarn aus dem Schutz seiner Hecke, die Eltern mögen doch bitte mal für Ruhe sorgen. „Nee, nee“, hat der Kleine geantwortet: „Unsere Eltern kommen aus Kreuzberg, die kümmern sich nicht um uns, da müssen sie schon mit uns verhandeln.“ Meine Frau und ich haben laut gelacht, vielleicht ein bisschen zu laut. Ein paar Wochen später sind die älteren Nachbarn ausgezogen.