Mein Kiez

Der Kreuzberg

Wo wohnst du eigentlich? zitty-Autoren schreiben über ihren Kiez. Über die Straße, in der sie leben, über den kleinen Laden an der nächsten Ecke, über nette Nachbarn. Diesmal: der Kreuzberg Morgens und abends schnürte der Fuchs über den Hof des Grünflächenamts und verschwand zwischen den Reben des Kreuzberger Weins, der dort angebaut wird. Unter den Blättern hatte er seinen Bau. In manchen Nächten trabte er unsere stille Straße hinunter, einmal lief er vor mir her, als wolle er mich heimbringen. Vor der Haustür ließ er mich stehen und rannte weiter zur Baulücke unten auf der Ecke.

Im Sommer wurde oben auf der Dudenstraße ein Fuchs angefahren. Er zuckte in seinen Todeskrämpfen, zog sich zusammen und schnellte auseinander, hoch über dem Asphalt schlug er unkontrollierte Saltos. Er sah viel kleiner, viel roter aus als mein einstiger Begleiter, aber vielleicht war er es doch, denn den Fuchs aus den Weinreben habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Und auch keinen anderen.

Dabei bietet der Viktoria-Park auf dem Kreuzberg, der höchsten natürlichen Erhebung in Berlin, ein prächtiges Revier. Mit Büschen voller Beeren, Eichen, Ulmen, Buchen und anderen Bäumen, die Früchte für Kleinsttiere abwerfen, mit Felswänden und Pfaden so schmal wie Ziegenstiege. Mit Bächen, einer Schlucht, Sandflächen und einem künstlichen Wasserfall. Der Viktoria-Park ist eine spätromantische Fantasie vom wilden Leben. In seiner Schlucht ließe sich Carl Maria von Webers Oper „Freischütz“ überzeugend aufführen.

Füchse können hier Pizzareste fressen, bis sie platzen.  An schönen Abenden lagern auf den Wiesen und den Gipfeltreppen vor dem pseudogotischen Denkmal junge Selbstverpfleger, manche übernachten auch im Schlafsack unter den Bäumen. Sie bringen Bier und Wein und Club Mate mit und, seit Grillen verboten ist, auch Fertigessen. Die Flaschen kullern die Treppen hinunter und zerschellen, von der Pizza picken Krähen die Salami. Teig und Kartons bleiben übrig.

Die Touristen, die mit dem Bus anreisen (immer kurz vor zehn), beobachte ich beim Morgensport, wie sie sich über den Abfall wundern. Trostlos sehen im Tageslicht die Spuren des Treibens aus, das nachts allerliebst wirkt, wenn die jungen Menschen beisammen hocken, englisch, spanisch und italienisch murmeln und auf die erleuchtete Stadt schauen. Schnurgerade führt die Großbeerenstraße Richtung Zentrum, in der Ferne rechts blinkt der Fernsehturm. Einem Ufo gleich schimmert links das Sony Center.

Der Park hält das Viertel zusammen

Doch in diesem Sommer war es ganz anders. Immer wieder überschwemmten heftige Platzregen die Wiesen und hielten die Hostelgäste fern. Das Wasser strömte die Wege bergab und ergoss sich über die Kreuzbergstraße. Jedes Gewitter war eine Sensation. Ich hatte den Park fast für mich allein, der so grün und nass war, dass er noch im August einem englischen Garten glich. Zogen die dunklen Wolken ab und kam die Abendsonne hervor, war die Fernsicht spektakulär. Man konnte sich einbilden, bis nach Polen zu schauen.

Von oben betrachtet, schrumpft unser Viertel zu einem Gründerzeitstädtchen im Modelleisenbahnformat, dessen Erbauer keinen Wert auf Details legt. Zu erkennen ist nur die italienische Frühstücksbar am Wasserfall, verschwunden sind Zeitungskiosk, Fahrradwerkstatt und Blumenladen. Man kann, wenn man will, hier leben wie in einer freundlichen Kleinstadt. Zwei Grundschulen, Kindergärten, zwei Kirchengemeinden, Mieterverein, das „Schwule Museum“, ein türkisches Altenheim, ein Irish Pub, Familiencafés und das Bezirksrathaus halten das Viertel zusammen. Und nicht zuletzt tut das der Park. Man trifft sich auf der Hangwiese oder dem Spielplatz.

Doch wer will, kann anonym bleiben. Steigt am U-Bahnhof Mehringdamm aus oder kommt von der Autobahn-Abfahrt Tempelhofer Damm, verschwindet in seinem Haus und ist nicht mehr gesehen. Wie die Bewohner der Lofts in der burgähnlichen Brauerei auf dem Berg. Von ihnen sehen wir nur die Autos. Jaguare und SUVs parken oben auf dem Berg, unten parken die Kleinwagen.

Die Kleinstadt zwischen Kreuzberg und Landwehrkanal ist groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen. Als einmal ein Hund an die Parkbank pinkelte, auf der ich döste, schnauzte das dazugehörige Ehepaar meinen schüchternen Protest nieder: Ich solle bloß nicht denken, der Park gehöre mir allein. Die drei habe ich nie wieder gesehen. Die Kleinstadt liegt in einer wirklich großen Großstadt.

Deren Ende lässt sich auch von oben nicht erkennen. Flach liegt sie da, in der Berliner Farbmelange aus Grau, Anthrazit, Sand und dem Ziegelrot der Gründerzeit, unterbrochen von Tiergartengrün und Hochhausweiß, vom Gold restaurierter Gebäude aus der Hohenzollernzeit und dem Glas heutiger Konzern- und Regierungsbauten. Jede Epoche hat ein anderes Material. Nur wo die Mauer stand, lässt sich nicht sehen, der ehemalige Todesstreifen ist zwischen neuen Häusern verschwunden. Um das noch zu erkennen, ist der Berg mit seinen 66 Metern einfach nicht hoch genug.

Doch hoch genug, um die 127 Dinge zu relativeren, die ständig erledigt werden wollen.  Wenn ich nicht weiß, ob ich zuerst die liegengebliebene Wäsche waschen, die Mutter anrufen, das Knöllchen bezahlen, dem Kind die Fingernägel schneiden oder einkaufen gehen soll, ob ich nicht einmal wieder einen Kunsttheorieband lesen, einen angesagten Kinofilm sehen oder doch wie immer einen Artikel schreiben soll, wenn ich noch einen Arzttermin in die Woche quetschen und das Auto in die Reparatur bringen muss, dann stapfe ich auf den Gipfel. Hier oben ist das alles egal, hier fällt mir wieder ein, dass das Bullauge meiner Waschmaschine nicht der Nabel der Welt ist.

Kurt Eisner verbrachte seine Jugend hier

Das prächtige Panorama macht nicht nur froh. Das geht nicht mit diesem gusseisernen Denkmal im Rücken, das nach Schinkels Plänen wie ein gotisches Türmchen mit eisernem Kreuz obendrauf 1821 fertig wurde. Es soll an die Befreiungskriege gegen Napoleon erinnern, an das Geschlachte bei Großgörschen, Waterloo und Leipzig. Unfreiwillig zeugt es von der Hoffnung, nicht nur den französischen Kaiser zu verjagen, sondern auch mehr Demokratie zu wagen.

Der Vormärz war eingeläutet, die Dichter schrieben gegen König und Zensur. Eine der beiden Schulen am Wasserfall trägt den Namen des Satirikers Adolf Glasbrenner, eine Straße heißt nach dem antinapoleonischen Komponisten Albert Methfessel. Der Aufruhr endete in der gescheiterten Revolution von 1848, und der Nationalismus mutierte allmählich zum Fluch Europas.

Auf den Magistralen, die die Stadtfläche zerschneiden, wollte Albert Speer den Wahnsinn Germania bauen. Schaue ich ostwärts, bekomme ich eine Ahnung davon, wie Berlin dann ausgesehen hätte. Da klotzt der stillgelegte Flughafen Tempelhof, der seit 1934 den Machtanspruch der Nationalsozialisten gigantomanisch in Szene setzt.

Ich habe schon einmal hier gewohnt, während des Studiums, in dem ich mich tags durch die deutsche Geschichte fraß und nachts Alpträume von Nietzsche hatte. Berlin wirkte damals wie ein Freilichtmuseum, in dem jemand das Licht ausgeknipst hatte, auch die Geschichte des Viertels am Kreuzberg lag für uns weitgehend im Dunkeln.

Der Eindruck kam wohl auch daher, dass wir meist im Wintersmog unterwegs waren, zwischen von Kohle verrußten Häusern mit Einschusslöchern. Die Nächte begannen im heutigen Bergmannkiez, im Café Berlin-Mitte, gingen weiter im Basement, einer Bar am Mehringdamm, wo die Schönen der Nacht in einem Käfig tanzten, und endeten morgens im Risiko an den verfallenden Yorck-Brücken. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass es Spaß gemacht hätte.

Dazu standen wir zu cool herum, keine Geste zu viel, jede Miene ein Eisblock, die Sätze ätzend. „Sie ist aber nicht schön.“ Diese Bemerkung von Johnny, einem blassen Jüngling mit rotgefärbter Strähne, war nicht nur blasiert, die Frau, der sie galt, sollte sie auch hören. Im Nachhinein denke ich, dass wir hinter unseren arroganten Fassaden bloß Traurigkeit versteckten, ohne zu wissen, dass wir traurig sind.

Die Ratlosigkeit des Postpunk mischte sich mit den Berliner Schrecken. Wir lasen Klaus und Erika Mann, Christopher Isherwood, Döblin, Toller, Brecht, Tucholsky, Mühsam, Bücher von Menschen, die ins Exil mussten, sich das Leben nahmen oder im KZ umgebracht wurden. Noch hatte die Topographie des Terrors nicht eröffnet, ein Ort der informiert und öffentliches Gedenken ermöglicht hätte, noch steckten vor den Haustüren nicht die Stolpersteine im Pflaster, die heute an deportierte Juden erinnern.

Inzwischen weisen viele Tafeln darauf hin, wer alles am Fuße des Kreuzbergs wirkte oder lebte. Kurt Eisner zum Beispiel, der Kopf der Münchener Räterepublik, verbrachte seine Jugend hier. August Bebel sprach in einem der Versammlungsräume an der Belle-Alliance-Straße, dem heutigen Mehringdamm, der nach dem Publizisten Franz Mehring heißt. Auch Gottfried Benn, dessen Sympathie für die Nazis den emigrierten Klaus Mann so entsetzte, hatte seine Praxis dort. Vieles davon steht im „Kreuzberger Horn“, einer kleinen Zeitschrift, von älteren Herren aus dem Viertel penibel zusammengestellt. Ihnen scheint nichts zu entgehen, keine historische Berühmtheit und kein heutiger Investor. Da passen welche auf. Das  beruhigt ungemein. Denn die Gegenwart rast voran.

Jede Baustelle wirkt wie ein Menetekel

Als ich vor rund zehn Jahren erneut hierher zog, sah es so aus, als ob das Viertel ein Fall fürs Quartiersmanagement würde. Jetzt fragen wir uns, ob wir das Leben hier demnächst bezahlen können. Bekannte aus der Nachbarschaft müssen ihre Wohnung nun kaufen, wenn sie drin bleiben wollen. Andere, bei denen der Hausbesitzer gewechselt hat, fragen mich auf der Straße nach preiswerten Zimmern, gern auch drüben in Schöneberg.

Jede Baustelle wirkt wie ein Menetekel. Auf das Eckhaus mit dem Café Kaiserstein bauen sie ein Dachgeschoss drauf. Die stillgelegte Tankstelle, zuletzt eine Autowerkstatt, hat Platz für einen Betonblock mit Eigentumswohnungen gemacht. Zwei Ecken weiter wurden Edellofts in ein Gründerzeithaus hineinsaniert. Das Elektrogeschäft, das unsere Wasserfilter führte, ist fort, ebenso das Reformhaus und der Edeka für die schnelle Milch. Dafür gibt es jetzt so viele Kaffeebars, dass man allein beim Hingucken eine Koffeinvergiftung bekommt.

Auf dem Kreuzberg weht der Wind meist aus Nordwest und bringt Wolken vom Meer. Man kann sich auch aus dem Wind drehen und der Innenstadt den Rücken zuwenden, was jedoch die wenigsten Besucher des Denkmals tun. Die Stadt geht nach Süden ewig weiter, fast ohne markante Punkte, an denen das Auge halten könnte.

Das ist Berlin ohne seine Mitte, das sind Reihenhäuser, Wohnblocks, Autobahn und Industrie. Ich kenne mich dort nicht aus. Doch ich habe gehört, dort soll es noch Läden geben, in denen man Glühbirnen, Unterhosen, sogar Kinderschuhe erhält. Der Wasserfall ist jetzt im Herbst abgeschaltet. Im Becken schwappt braune Brake mit goldenem Laub obenauf. Zwei Mal habe ich morgens dort einen Graureiher gesehen, der regungslos im Wasser stand.