Mein Kiez

Hansaviertel

Wo wohnst Du eigentlich? zitty-Autoren schreiben über ihren Kiez. Über die Straße, in der sie leben, über den kleinen Laden, über nette und weniger nette Nachbarn. Diesmal: das Hansaviertel

Zu Beginn eine gute Nachricht: Das Hooters hat zugemacht. Das Hooters war eine Bar für gierige Männer, die Spare Ribs mögen – und großbrüstige Kellnerinnen in knappen Uniformen. Es war die größte Scheußlichkeit im Kiez. Letzten Sommer, während der Weltmeisterschaft in Südafrika, mussten die Angestellten regelmäßig einen grotesken Waka-Waka-Tanz aufführen, der Kellnerinnen und nüchterne Gäste stets beschämt zurückließ. Ein entwürdigendes Schauspiel.

Mit dem Hooters kommt auch eine bestimmte Klientel nicht mehr ins Hansaviertel. Die vielleicht letzten ihrer Art kamen mir im Juli entgegen. Wo denn das Hooters sei, fragte mich einer von ihnen und stellte den Kragen seines westerwellegelben Polo-Shirts hoch. Da ich nicht gleich verstand, ergänzte er: „Das Hooters, das ist so eine Art amerikanisches McDonalds“.

Das amerikanische McDonalds ist nicht mehr, und damit ist es noch ruhiger geworden im Kiez. Im Herbst ist das Rauschen der Blätter im Tiergarten manchmal das einzig vernehmbare Geräusch. Dann kommt es mir vor, als sei das Hansaviertel der letzte Ort in Berlin, an dem kein Akkordeon zu hören ist, auf dem „Besame mucho“ in Endlosschleife gespielt wird. Es gibt hier kaum Glamour, die einzigen Stars im Kiez sind Kevin Costner, der sich hier ein Haus gekauft haben soll, und ein feinsinniger Fuchs, der sich in der Dämmerung vor der Akademie der Künste postiert, als sei es sein Revier, das es zu verteidigen gilt. Kein Partyvolk und kaum Touristen.

 

Aalto, Gropius und Niemeyer bauten hier

Nur die Italiener, die sind immer da. Sie laufen in kleinen Gruppen durch vermeintlich unspektakuläre Wohnanlagen und gucken irritiert. Immer wieder blättern sie in ihren Reiseführern, blicken wieder nach oben auf schmutzige Fassaden, dann nach unten auf die Kaninchen, die in ständiger Aufgeregtheit den Rasen abknabbern. Sie wirken ernüchtert, die Italiener, der Mangel an Großartigkeit ist auch durch die riesigen Gläser ihrer Sonnenbrillen zu offensichtlich.

Das soll der touristische Hotspot sein, den ihr Reiseführer versprochen hat? Es sind wirklich nur Italiener, es ist ein Rätsel. Vermutlich hat ein architekturbegeisterter Übersetzer die italienische Version des Lonely Planet um den Zusatz „Hansaviertel – nach Brandenburger Tor und Berghain die größte Attraktion in Berlin“ erweitert, anders kann ich es nicht erklären. Häufig schon bin ich aus der Tür getreten und wurde gleich fotografiert. Als könnten sie nicht glauben, dass wirklich Menschen leben in diesen Häusern, die aussehen wie kleine Plattenbauten, aber von einigen der berühmtesten Architekten der Nachkriegszeit gebaut wurden. Das Niemeyer-Haus, das Gropius-Haus, das Aalto-Haus. Die vielen nach Süden ausgerichteten Balkone. Gebäude aus der Zeit der Klassischen Moderne. Modernità classica?

Das Hansaviertel hat einen Ruf, der bis nach Italien reicht, aber kaum mal nach Kreuzberg. Es gehört zum Bezirk Mitte und ist flächenmäßig der kleinste der 95 Berliner Ortsteile. Knapp 6.000 Menschen leben hier in einem Gebiet zwischen Spree und Großem Tiergarten, das im Osten vom Schloss-Bellevue-Park und im Westen vom Gelände der Technischen Universität begrenzt wird. Als bürgerliches Viertel im Kontrast zum angrenzenden Arbeitergebiet in Moabit gegründet, war es nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. In den 1950er Jahren wurde der südliche Teil im Rahmen der internationalen Bauausstellung Interbau neu aufgebaut. Auf alten Fotos sieht man eine Seilbahn, mit der Besucher der Interbau über das Viertel schweben und sich von oben anschauen, was als Paradebeispiel moderner westdeutscher Stadtplanung galt. Aufgelockerte Baustrukturen und so viel Grün, als würde der Tiergarten sich seinen Weg durch das Viertel bahnen. Eine neue Urbanität.

2011 ist von dieser Urbanität und der Aufbruchstimmung jener Zeit wenig zu spüren. Das Hansaviertel ist in einem Dornröschenschlaf versunken und kein Prinz in Sicht, der es wachküssen möchte. Nicht wenige, die schon seit Jahren in Berlin wohnen und sich keinen Begriff vom Viertel gemacht haben. Es hat keinen Ruf, und damit auch nichts zu verteidigen.

Bei mir ist es anders. Ich bin in Berlin geboren und in Bonn aufgewachsen. Meine Großmutter wohnte in der Händelallee, direkt am Tiergarten, das Hansaviertel war das Berlin meiner Kindheit. Hier begannen die ungezählten Spaziergänge, die meist bis zur Mauer führten, dann auf den Aussichtsturm rauf: Osten gucken. Hier sah ich „Linie 1“ im Grips-Theater. Ich erinnere mich an die Veteranengeschichten meines Vaters, der um die Ecke aufgewachsen ist und jetzt wieder dort lebt. An den örtlichen Supermarkt mit dem exotischen Namen „Bolle“, das klang so berlinerisch-rotzig, nicht so dörflich wie mein heimischer „Stüssgen“. Und nur zehn Minuten entfernt der Breitscheidplatz, das urbane Zentrum meiner kindlichen Vorstellungswelt – mehr Großstadt ging einfach nicht. Wann immer ich meine Großmutter besuchte, guckte ich nachts aus meinem Zimmer nach draußen. Über den Wipfeln der Bäume sah ich den angestrahlten Mercedes-Stern über dem Europa-Center. Er drehte sich langsam im Kreis und wie er sich drehte, entfernte ich mich vom Rheinland. Und in mir wuchs die Gewissheit, eigentlich doch Berliner zu sein.

So kehrte ich zum Studium zurück. Als der verlorene Sohn, als der ich mich fühlte, auch wenn niemand auf mich gewartet hatte. Doch das Berlin meiner Kindheit gab es nicht mehr: die Mauer gefallen, die Oma gestorben, Bolle hieß auf einmal Rewe. Berlin war wie ein neuer Kontinent, den es zu entdecken galt und die Clubs von Kreuzberg und Friedrichshain ersetzten in ihrer Anziehungskraft mühelos den sich drehenden Mercedes-Stern. Das Hansaviertel war nur noch eine verblassende Erinnerung, die immer dann kurz aufflackerte, wenn ich mit der S-Bahn die Bahnhöfe Tiergarten und Bellevue passierte.

Es war der Zufall, der mich zurückbrachte. Ich hatte ein Jahr in München gelebt und bei meiner Rückkehr nach Berlin einen anhaltenden Schock über die neuen Mietpreise in Kreuzberg erlitten, auf den mich selbst der bayerische Immobilienmarkt nicht vorbereitet hatte. Eine Wohnung im Hansaviertel war frei, ich konnte sie günstig übernehmen, auch für kurze Zeit, wenn gewünscht. Es war ein Provisorium, um mich neu zu orientieren. Doch ich blieb. Und blieb. Blieb viel länger als gedacht. Es war keine Bequemlichkeit und hatte keine nostalgischen Gründe. Es gefiel mir einfach, im Hansaviertel zu wohnen, auch ohne Kenntnisse der Klassischen Moderne.

Ich mochte den Bosnier in der Bachstraße, der Haare schneidet und Cevapcici serviert. Die Tiergartenquelle gegenüber, in der asiatische TU-Studenten, Regierungsbeamte und Fernfahrer ungläubig auf ihre überfüllten KPM-Teller starren. Die  Königliche Porzellan-Manufaktur hat in Tiergarten ihre Produktionsstätte. Ich mochte die Gegensätze. Ältere Damen, die im 150 Jahre alten Café Buchwald Baumkuchen essen, Obdachlose mit ihrem Bier auf dem leicht verwahrlosten Hansaplatz. Kinder mit ihren Eltern auf dem großen Spielplatz nahe der Siegessäule, während zwei Männer sich vor der angrenzenden Männertoilette treffen und gemeinsam darin verschwinden – derselben Toilette, die schon als Kind für mich ein mystisch-unheimlicher Ort war wie sonst nur das Nachttiergehege im Berliner Zoo.

Doch es gab diese Blicke. Sie kamen immer, wenn ich erzählte, wo ich wohne. Als ob ich gesellschaftlichen Selbstmord begangen hatte. Viel zu oft glaubte ich, mich erklären zu müssen, es war auch ein Kampf gegen meine eigenen Zweifel. Ich habe dann von den Menschen erzählt, die hier leben und die nicht ständig ihre eigenen Klischees spazieren führen. Wie ungewöhnlich das für Berlin sei, umso mehr, weil der Preis dafür nicht einschnürende Provinzialität ist. Ich habe den spröden Charme erläutert und die angenehme Normalität. Und wo sonst in Berlin, habe ich dann gefragt, hat man so viel Platz, so viel Grün, die Spree vor der Haustür, einige der schönsten Joggingstrecken der Stadt – und lebt dennoch zentral?

Ich habe tausend gute Gründe gefunden, um hier zu wohnen. Und mich selbst überzeugt. Es blieb nur ein Nachteil, der mit der Zeit wuchs und zu dominieren begann: Es kann verdammt einsam werden, wenn alle Freunde in Kreuzberg wohnen. Vor allem im Winter, wenn die Stadt ihr Grau in Grau malt und selbst kürzere Entfernungen unüberwindbar erscheinen. So bin ich wieder weggezogen, an den Görlitzer Park. Ich musste. Und wenn ich nun das Fenster öffne, höre ich irgendwo ein Akkordeon, auf dem „Besame mucho“ gespielt wird. Spätestens dann vermisse ich das Rauschen der Blätter im herbstlichen Tiergarten.