Sie kommen blitzschnell zusammen, zu Tausenden. Sie halten Protestschilder in Kameras, blockieren Haustüren. Sie sammeln Unterschriften und ziehen vor Gericht, gegen Flugrouten oder Zwangsräumungen. Berliner Bürger machen Politik. Direkt. Im Internet und auf den Straßen. Sie treiben die Senatoren und Stadträte vor sich her wie seit den bürgerbewegten 70er- und 80er-Jahren nicht mehr. Statt fortzuziehen, dorthin wo es leiser, sauberer, billiger ist, wollen sie sich die Stadt zurückholen. Sie streiten für ein besseres Berlin.
Ein genossenschaftliches Stadtwerk soll es geben, das regionalen Ökostrom vertreibt. Statt der Mieten sollen die Gehälter steigen, die Wasserbetriebe wieder voll staatlich werden. Rentnerinnen besetzen einen Seniorenclub, Nachbarn „mucken“ gegen Rechtsradikale in den Kiezen von Schöneweide auf. Mal geht es ums große Ganze, um Ökologie, Gerechtigkeit, Gemeinwesen, mal ums eigene kleine Leben. Mal ist Nächstenliebe das Motiv, mal ist jeder sich selbst der Nächste. Doch immer machen die Aktivisten Politik im wortgenauen Sinn: Sie gestalten die Polis, das öffentliche Leben – mit noch nicht absehbaren Folgen.
Die Aktivisten machen nicht Revolution, sondern Reform
Die Proteste sind kein Strohfeuer. Bürger streiten für Wohnstraßen und Nachbarschaftsgärten, für transparente Verträge, für Wind und Sonne statt Braunkohle und Fracking. Und nicht Politiker sollen die Fakten schaffen, das wollen sie selbst in die Hand nehmen. Doch solch ein Vorhaben zu verwirklichen ist, so schnell es sich digital anstoßen lässt, ein Langzeit-, wenn nicht Lebenszeitprojekt. Die Aktivisten wühlen sich durch Gesetze und Vertragswerke, sie verbringen ihre Freizeit in Expertenrunden. Sie machen nicht Revolution, sondern Reform.
Die Parteiendemokratie, wie wir sie kennen, gerät dabei gründlich durcheinander. Kein Politiker kann sich noch sicher sein, dass sein Projekt mit Parlamentsmehrheit in der Praxis auch besteht. Und so kann sich kein Wähler mehr sicher sein, was seine Stimme tatsächlich bewirkt. Zudem treten Protestgruppen auch gegeneinander an. In Mitte streitet ein Verein für den Wiederaufbau des preußischen Stadtbilds, ein anderer plädiert für Brachen und will das Stadtschloss verhindern. Politik wird komplizierter. Und noch ist offen, ob sie demokratischer wird. Im Zweifel setzen sich diejenigen durch, die mehr Zeit, Bildung und Beziehungen haben. Die so genannte Unterschicht jedenfalls muckt nur selten auf. Abgesehen von den Mieterprotesten am Kottbusser Tor ist die neue Bürgerbewegung mehrheitlich bürgerlich.
Gemeinwesen geht nur gemeinsam
Wenn Politiker geschickt sind, arbeiten sie mit den Aktivisten zusammen. Die Bürger bringen neue Ideen mit, sie wissen, wie Nachbarschaften ticken. So lässt sich Unruhe in konstruktive Bahnen lenken. Denn Unzufriedenheit und Existenzsorgen sind gewachsen, unter dem Druck von Finanzkrise, Immobilienboom, Schuldenbremse und dem Eindruck der beunruhigenden Bilder von wütenden Bürgern auf Europas Straßen. Wenn Politiker und Aktivsten klug sind, nehmen sie die weniger Belesenen und Vernetzten mit. Gemeinwesen geht nur gemeinsam.
Unter dem Bild finden Sie die Links zu den einzelnen Protestbewegungen und ein Interview mit Florian Kessler, dem Autor des Buches „Mut Bürger“